Gegenwartsbewältigung – eine Abrechnung mit Nazi-Almanya

Gegenwartsbewältigung ist nach Max Czolleks erstem Buch: Desintegriert euch! die zweite kritische Abrechnung mit Deutschlands Politik und ihren Diskursen/Diskursverschiebungen. Schon der Titel ist ein bewusst gewähltes Wortspiel und verweist auf die Vergangenheit Deutschlands, die wohl doch noch nicht ganz passé ist.

Dabei nimmt Czollek immer wieder Bezug auf die Corona-Krise mit ihrer beschränkten Solidarität für bestimmte soziale Gruppen und ist nicht nur deshalb hochaktuell. Er beschreibt, wie schnell die Politik während der Pandemie fähig ist durchzugreifen, und erklärt ihre Passivität bezüglich Deutschlands Naziproblematik nicht durch ihr Unvermögen, sondern schlichtweg durch ihren Unwillen.

Durch kluge Vergleiche bringt er die LeserInnen immer wieder zum Lachen und zum Nachdenken.

Max Czollek nimmt dabei kein Blatt vor den Mund und schreckt nicht davor zurück, durch gekonnte Ironie und Humor Almans (Achtung: reverse racism?!) an den Pranger zu stellen.

So etabliert er beispielsweise das heilige H-Wort der Deutschen, vermutlich als Analogie an das N-Wort, welches von Verfechtern des H-Wortes um jeden Preis verteidigt wird, gesagt werden zu dürfen. Heimat als zentrales Werkzeug der Identitätskonstruktion.

Er hebt zusätzlich den sprachlichen Aspekt als gesellschaftspolitisches Instrumentarium hervor und wie dieser zur Reproduktion rassistischen Denkens beiträgt. Czollek arbeitet anschaulich mit Verweisen auf Literatur und Kunst heraus, inwiefern Deutschland seine Vergangenheit aufgearbeitet und eine neue unschuldige Identität konstruiert hat. Genug ist über die Vergangenheit gesinnt worden – nun hat der Deutsche reinen Herzens und reinen Gewissens ein Recht auf Heimat und Leitkultur. Die überwunden geglaubte Vergangenheit holt so die Gegenwart auf und bedroht sie im Sinne von rassistischem Denken und Unvermögen zur Selbstreflexion. Dem gegenüber stellt Czollek eine neue „wehrhafte Poesie“.

Max Czollek plädiert in seinem Buch für radikale Vielfalt der deutschen Gesellschaft als Gegensatz zur deutschen Leitkultur, für alle Menschen, die sich mit Nazi Almanya nicht identifizieren können.

Das Buch zwingt die LeserInnen, konzentriert mitzudenken, und führt diese in die bizarren Diskurse Deutschlands ein. Insofern ist es keine Lektüre für zwischendurch – zu wertvoll sind dafür die Inhalte, um einfach überflogen zu werden. Um gewisse Passagen des Buches noch besser zu verstehen (wie etwa das Gedächtnistheater), lohnt es sich vorher Desintegriert euch! zu lesen.

Alles in allem ist Gegenwartsbewältigung ein sehr lesenswertes Buch, nicht zuletzt durch seine sprachlich-künstlerischen Fähigkeiten, Wortspiele, geistreichen Metaphern und der klaren Positionierung. Gleichermaßen beschreibt er das Erstarken der Rechten durch folgendes Bild: „Stellen Sie sich […] ein rechtwinkliges Dreieck vor, an dessen Spitze die wankende bürgerliche Mitte steht. Die Seiten des Dreiecks sind zwar nach rechts und links gleich lang. Aber an der bürgerlichen entsteht immer, logisch – ein rechter Winkel.“

Eine Rezension von Merve Kanbur. Merve studiert Erziehungswissenschaft in Augsburg.

Max Czollek (2020): Gegenwartsbewältigung. München: Hanser Verlag. 208 Seiten. 20€. Das Buch kann hier direkt beim Verlag erworben werden.

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