Die Corona-App kommt: Nutzlos, Überwachung oder hilfreich?

Weltweit versuchen Staaten auf unterschiedliche Weise, die Verbreitung des Corona-Virus zu stoppen. Ein neuer Versuch startet jetzt in Deutschland mit der Corona-Warn-App. Andererseits gibt es die Sorge, dass die Bevölkerung damit überwacht werden soll. In Australien und Frankreich sind Corona-Apps praktisch gescheitert. Was kann die neue App aus Deutschland?

Die Ansteckungen mit dem Corona-Virus sind nach den Einschränkungen des öffentlichen Lebens zurückgegangen. Kinder wollen wieder in Schulen und Kindergärten, Kinos und Konzerte sollen wieder öffnen. Allerdings droht bei unbeschränkten gesellschaftlichen Begegnungen eine neue Welle der Virenausbreitung. Das Virus kann nämlich bei körperlicher Nähe schnell unbemerkt an viele Personen weitergegeben werden. Viele Infizierte haben keine Beschwerden oder bekommen diese erst nach Tagen, so dass sie nichts von ihrer Infektion ahnen. Diese besondere Eigenschaft des Coronavirus erschwert die Verfolgung der Ansteckungen.

Daher kam die Idee auf, Smartphones zur Protokollierung persönlicher Begegnungen und nachfolgender Infektionen zu nutzen. Der erste Ansatz war, die Positionen aller Smartphone-Benutzer permanent zu überwachen, damit der Staat zentral den Verlauf möglicher Infektionen verfolgen kann. Diese Idee stieß auf technische und politische Bedenken. Bürgerrechtsgruppen warnten vor der Möglichkeit, dass der Staat die Smartphone-Benutzer nicht bloß zur Seuchenprävention überwachen können wollte. Ist das wirklich ein Problem?

Der Aufenthaltsort von Handynutzern wird bereits permanent kontrolliert. Das ist schon aus technischen Gründen nötig, um die Funkerreichbarkeit und Abrechnung der Dienstleistungen sicherzustellen. Dass der US-Geheimdienst NSA dabei sehr private Daten von Millionen Menschen ausspioniert, hatte der Whistleblower Edward Snowden schon 2013 enthüllt. US-Technik-Konzerne wie Google, Facebook, Microsoft und Apple werten ständig Fotos, Textnachrichten, E-Mails und Navigationsrouten von Milliarden Nutzern aus. Die befürchtete Massenüberwachung gibt es längst.

Eine Pandemie wie die des Virus SARS-CoV-2, umgangssprachlich Coronavirus, lässt sich nur eindämmen, wenn Behörden persönliche Krankheitsdaten in großen Mengen erfassen. Das gilt für die neue Pandemie genauso wie für Tuberkulose, Gelbsucht oder Malaria. Wenn Menschen etwa aus Scham eine Syphilis-Infektion verschweigen, gefährden sie sich nicht nur selbst, sondern auch andere. Eine staatliche Hilfe kann nur erfolgreich sein, wenn der ärztlichen Schweigepflicht vertraut werden kann. Erkrankte dürfen nicht diskriminiert werden. So hat der Kampf der Schwulenbewegung in den 1980er und 1990er Jahren entscheidend dazu beigetragen, dass die Seuche AIDS zurückgedrängt werden konnte.

Zur Technik: Es ist nicht praktikabel, mittels GPS die Aufenthaltsorte von Smartphone-Benutzern ständig zu verfolgen, um möglichen Ansteckungen nachzugehen. GPS ist dafür zu ungenau und in Gebäuden unbrauchbar, außerdem wäre der Stromverbrauch zu hoch. Deshalb kam der Gedanke auf, zu diesem Zweck den Kurzstreckenfunk Bluetooth zu nutzen, der heutzutage in Smartphones eingebaut wird. Diese Technik wurde um die Jahrhundertwende unter anderem von der schwedischen Firma Ericsson entwickelt, um Handys mit drahtlosen Headsets und Tastaturen auszustatten. Der Name Bluetooth und das zugehörige Runensymbol erinnern an den Wikingerkönig Harald Blauzahn, der nordische Stämme vereint haben soll.

Der Bluetooth-Funk reicht nur wenige Meter weit und über die Signalstärke lässt sich abschätzen, ob sich zwei Smartphone-Nutzer über eine längere Zeit nahe gekommen sind; etwa in der U-Bahn, einer Versammlung oder einem Restaurant. Außerdem ist die Bluetooth-Technik sparsam im Stromverbrauch. Allerdings wurde diese Technik entwickelt, um wenige Zubehörgeräte mit einem Handy zu verbinden und nicht dafür, um ständig fremde Geräte anzufunken. Die zwei übermächtigen Hersteller von Smartphone-Betriebssystemen, Apple (iOS) und Google (Android) wollen nicht, dass Apps über Bluetooth ununterbrochen Kontakt zu unbekannten Gegenstellen aufnehmen. Dies wäre aus Sicherheitsgründen und wegen des Stromverbrauchs ungünstig. Kaum jemand würde eine App mit solchen Nachteilen nutzen wollen.

Die französische Regierung hat diese technischen Bedingungen ignoriert. Entgegen dem Rat von den Fachleuten bei Apple und Google ließ sie eine App entwickeln, die versucht, ständig neue Funkkontakte aufzunehmen. Auf diese Weise sollte eine zentrale Datenbank gefüttert werden. Das funktioniert erwartungsgemäß schlecht und entsprechend ist die französische App ein Misserfolg. Die deutsche Regierung wollte zunächst den gleichen Weg gehen, ließ sich aber zum Glück noch umstimmen. Eine App, die ähnlich einer elektronischen Fußfessel ständig persönliche Daten an eine Behörde schickt, hat natürlich erhebliche Akzeptanzprobleme.

Datenschutz?

Die entscheidenden Fragen für eine Corona-App lauten: Müssen die Smartphones private Daten an eine zentrale Sammelstelle abliefern oder werden die Begegnungen dezentral auf den Handys aufgezeichnet und nur anonymisiert übertragen? Wem nützt die App? Wer hat die Daten unter Kontrolle, die Smartphone-Benutzer oder der Staat beziehungsweise eine ihm unterstellte Behörde? Der Chaos Computer Club, „Deutschlands renommierteste Hackervereinigung“ (Der Spiegel) forderte eine dezentrale Datenaufzeichnung unter voller Benutzerkontrolle. Da ohne eine Akzeptanz und ein Vertrauen der Mehrheit eine Überwachungs-App nur mit diktatorischen Mitteln durchsetzbar gewesen wäre, knickte die Bundesregierung ein. Jetzt verfolgt sie das Konzept einer dezentralen und anonymen Kontakterhebung, entsprechend dem Rat der Expert*innen. Das ist ein Sieg der Bürgerrechtler in Deutschland.

Apple und Google beließen es nicht dabei, technisch zweifelhafte Lösungen europäischer Regierungen auszubremsen. Binnen weniger Wochen entwickelten sie Updates für ihre Betriebssysteme, die eine technisch saubere, anonyme Aufzeichnung der Begegnungen mittels Bluetooth ermöglichen. Diese Programmierschnittstelle ist im aktuellen iOS-Betriebssystem ab Version 13.5 bereits enthalten, lauffähig ab iPhone 6s und neuer. Handys mit Google-Betriebssystem bieten die Funktion ab Android-Version 6. Neue Huawei-Handys werden von der US-Regierung boykottiert, aber da die Schnittstelle öffentlich ist, kann Huawei selbst die fehlenden Softwareteile nachliefern. Ältere Handys werden nicht unterstützt. Schätzungsweise rund 80 Prozent der Handys in Deutschland können die neuen Corona-Warnfunktionen ausführen, wenn diese installiert und aktiviert werden. Dafür gibt es keinerlei Zwang.

Die von den Herstellern bereitgestellten Basisfunktionen werden ergänzt durch eine App und ein System von Infektionsmeldungen, das mit den Behörden zusammenarbeitet. Die Behörden haben jedoch keine Möglichkeit, bestimmte Handynutzer persönlich zu identifizieren, wenn sich diese nicht freiwillig melden. Die Bundesregierung hat die Firmen SAP und Telekom mit der Entwicklung der App und der Serversoftware beauftragt. Diese beiden Firmen waren bisher zwar kaum für erfolgreiche App-Entwicklungen bekannt, sie verfügen aber über das nötige Knowhow. Der Quelltext der Software wurde offengelegt, um sicherzustellen, dass es keine versteckten Spionagefunktionen gibt. Diese richtige Entscheidung für das Open-Source-Prinzip schafft Vertrauen, das für den Erfolg nötig ist.

Technisch funktioniert die Lösung so: Jedes beteiligte Smartphone generiert eine Liste verschlüsselter, persönlicher ID-Nummern, die dann mit jedem anderen Smartphone ausgetauscht werden, das sich länger als einige Minuten in unmittelbarer Nähe befindet. Jedes Smartphone verfügt dann intern über eine Liste mit IDs anderer Smartphones, denen es in den letzten Wochen begegnet war. Die GPS-Position und die persönlichen Daten der Nutzer wie etwa Namen oder Telefonnummer werden jedoch nicht ausgetauscht und bleiben entsprechend unbekannt.

Freiwillige Nutzung

Smartphone-Nutzer können freiwillig eine Funktion aktivieren, die die eigene Liste der gesammelten IDs über das Internet mit einem zentralen Server abgleicht. Diese zentrale Stelle arbeitet mit den Gesundheitsämtern zusammen und nimmt geprüfte Meldungen von positiven Corona-Tests entgegen. Das System erfordert keine Registrierung auf dem Handy und kann weitgehend anonym arbeiten. Nur für die Meldung einer Infektion ist es notwendig, sich zu identifizieren. Ähnlich wie bei der Ziehung der Lottozahlen kann jeder Smartphone-Nutzer regelmäßig anfragen, ob Infektionen bei den eigenen Begegnungen bekannt geworden sind. Das geht viel schneller als die bisherigen manuellen Methoden der Gesundheitsämter, und die Geschwindigkeit ist hier entscheidend.

Die App kommt mit geringen Ressourcen aus. Die Auswirkungen auf Batterielaufzeit und Speicherbedarf sind kaum messbar. Pro Tag werden rund 1,5 MB Download-Daten erwartet, das entspricht etwa einer E-Mail und wird nur wenige Sekunden dauern. Die Funktionen sind jederzeit abschaltbar. Da es keine Registrierung gibt, kann das Verhalten keiner Person zugeordnet werden.

Eine freiwillige App kann nur Erfolg haben, wenn die Software einen sichtbaren Vorteil bringt. Dieser Vorteil besteht darin, dass ich eine Warnung bekomme, wenn ich infizierten Personen nahegekommen bin. Dann kann ich vorsorglich in Quarantäne gehen. Umgekehrt, falls ich mich anstecken sollte und mich melde, kann dieses System automatisch meine Kontaktpersonen warnen. Die Gesundheitsämter können plötzlichen Infektionshäufungen etwa in Fleischfabriken oder Kirchenchören schneller nachgehen, wenn und nur wenn sich die von der App alarmierten Personen bei ihnen melden. Wie bei Distanzregeln und Mundschutzempfehlungen kann das Ganze nur klappen, wenn sich die meisten Menschen verantwortungsvoll verhalten.

Das System hat Schwachstellen: So läuft nicht jeder Mensch ständig mit einem eingeschalteten Smartphone herum. Insbesondere Kindergärten, Grundschulen und Altersheime bleiben dadurch weitgehend unberücksichtigt. Von daher kann nur ein Teil der persönlichen Begegnungen protokolliert werden. Die Bluetooth-Funktechnik kann den räumlichen Abstand nur ungenau abschätzen, so dass es etwa unter Nachbarn in Hochhäusern Fehlalarme geben könnte. Der größte Schwachpunkt liegt jedoch darin, dass es keine internationalen Konventionen für den Datenaustausch gibt: International Reisende bleiben außen vor. Es ist peinlich, dass die EU nicht in der Lage ist, sich auf ein einheitliches System zu verständigen. Stattdessen herrscht Kleinstaaterei vor und jedes Land macht sein eigenes Ding. Dadurch ist ein weltweiter Erfolg dieses Verfahrens ausgeschlossen.

Berechtigte Sorge

Die Sorge vor Überwachung ist grundsätzlich berechtigt. Das zeigt Großbritannien, wo die sensiblen Informationen des staatlichen Gesundheitsdienstes NHS ausgerechnet von den Schnüffelfirmen Palantir und Faculty ausgewertet werden. Die Firma Palantir gehört dem Trump-Unterstützer Peter Thiel, Faculty steht der konservativen britischen Regierung nahe und war an der Brexit-Kampagne beteiligt. Diese Überwachung bringt offensichtlich nicht mehr Sicherheit: Die britische Regierung ist unfähig, die Verbreitung des Virus im eigenen Land einzudämmen. Mit offiziell über 115.000 Toten in den USA und jeweils über 40.000 Todesopfern im britischen Königreich und Brasilien sind allein diese drei Regierungen für fast die Hälfte (45 Prozent) aller Opfer weltweit verantwortlich. Würden anstelle von Donald Trump, Boris Johnson und Jair Bolsonaro dort Bernie Sanders, Jeremy Corbyn und Lula da Silva regieren, sähe das anders aus.

Die für Deutschland entwickelte App kann die Nutzer nicht ausspionieren. Sie warnt nur anonym vor Kontakten zu Infizierten. Das ist überprüfbar an der dezentralen Datenerfassung unter Benutzerkontrolle, am Verzicht auf Registrierungen und durch die Offenlegung des Sourcecodes. Wer der neuen Software misstraut, was völlig legitim ist, kann diese Punkte selbst überprüfen. Aber Untätigkeit ist keine Option. Diese Auseinandersetzung zeigt, dass sich der politische Einsatz für einen Gesundheitsschutz und gegen eine zentrale Überwachung gelohnt hat. Es wird einige Monate dauern, bis sich das System etabliert. Falls im Herbst eine neue Infektionswelle anrollen sollte, könnte die Corona-Warn-App sehr nützlich werden. Seit dem 16. Juni 2020 steht die neue Corona-Warn-App in Deutschland zum Download bereit. Wenn sie funktioniert wie erhofft, kann sie viele Leben retten und weitere Öffnungen ermöglichen

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