#ausnahmslos – kritisch und differenziert gegen sexualisierte Gewalt

Seit in der vergangenen Woche die Übergriffe der Silvesternacht in Köln und anderen Städten an die Presse kamen, überbieten sich Lager aller Prägungen mit Handlungsaufrufen. Von rechts schreit es nach der sofortigen Ausweisung möglicher „ausländischer“ Straftäter zum „Schutz unserer Frauen“, nach „mehr Polizei“ und gar öffentlicher, tätlicher Verfolgung optisch ins Profil passender Personen, wie sie dann auch am Ende der Woche in Köln ihren traurigen Lauf nahm. Aus der vermeintlichen Mitte hört man viel von Enttäuschung und undankbaren Flüchtlingen, denen man doch im letzten Jahr so viel Willkommenskultur entgegen gebracht und so aufopferungsvoll geholfen hätte. Einzig auf linker Seite gibt es Bemühungen, die zunehmend von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit dominierte Debatte wieder auf den eigentlichen Kern zurückzuführen – nämlich sexualisierte Gewalt, Sexismus, das Frauenbild in unserer Gesellschaft und das allgemeine gesellschaftliche Klima, in dem die Täter von Köln so ungeniert übergriffig werden konnten.

Bezeichnend für das herrschende Sexismusverständnis waren die besonders lauten Klagen darüber, dass „der Feminismus“ keine angemessene Reaktion gezeigt hätte, wo es doch auch sonst für jede Kleinigkeit einen medialen „Aufschrei“ gäbe. Dem setzen nun gleich 22 hochkarätige Feministinnen und Aktivistinnen eine Kampagne entgegen, die zum Zeitpunkt dieses Artikels bereits über 800 Mitzeichner*innen gefunden hat und sich als Hashtag in den sozialen Netzwerken rasant verbreitet: „Gegen sexualisierte Gewalt und Rassismus. Immer. Überall. #ausnahmslos.“ Die Forderung konzentriert sich im Gegensatz zum dominanten Diskurs auf Unterstützung, Hilfe und allem voran Solidarität mit Betroffenen sexualisierter Gewalt. Gleichzeitig liefert sie auch Ansätze für eine freiere Gesellschaft. Die Verfasserinnen, unter denen sich bekannte Namen wie Kübra Gümüşay, Anne Wizorek, Sookee und Antje Schrupp befinden, wehren sich vor allem gegen die Instrumentalisierung feministischer Anliegen für Hetzkampagnen und die opportunistische Thematisierung sexualisierter Gewalt und fordern umfassendes Eingreifen auf vielen Ebenen, um Menschen jeder „Ethnie, sexuellen Orientierung, Geschlechtsidentität, Religion oder Lebensweise“ ausnahmslos Sicherheit vor Übergriffen zu garantieren. Die politischen Forderungen der Kampagne lauten auf eine Stärkung von Beratungs- und Betreuungsangeboten für Betroffene, die Schließung von Lücken im Strafrecht was sexuelle Belästigung und Vergewaltigung angeht, vermehrte Aufklärungsarbeit zu Sexismus und sexualisierter Gewalt, geschlechtersensible Pädagogik und eine verbesserte Schulung und Sensibilisierung von Polizei und Justiz. Darüber hinaus rufen die Verfasserinnen die Gesellschaft dazu auf, „offen, kritisch und differenziert“ über sexualisierte Gewalt zu sprechen, von Verhaltensregeln für Betroffene abzusehen, eigene Vorurteile zu konfrontieren und bei sexualisierten Übergriffen Hilfe und Beistand zu leisten. Die Medienlandschaft wird ihrerseits dazu angehalten, auf Spott zu verzichten, Sexismus und andere Diskriminierungsformen als strukturelle Probleme anzuerkennen, pauschale Verquickungen von Übergriffen mit dem Islam zu unterlassen, in der bildlichen Darstellung auf rassistische und sexistische Klischees zu verzichten sowie für mehr Vielfalt in den Redaktionen zu kämpfen, was Geschlecht und Herkunft angeht. Unter den Mitzeichner*innen dieser umfassenden Forderungen befinden sich aktuell Namen wie Angela Davis, Laurie Penny, Katja Kipping, Manuela Schwesig, Renate Künast und Claudia Roth.

Bereits jetzt zeigt die Kampagne Wirkung: Selbst die Union hat sich nun am vergangenen Wochenende dafür ausgesprochen, sexuelle Belästigung als eigenständigen Straftatbestand gesetzlich zu verankern und das Strafmaß bei Sexualdelikten zu erhöhen. Über die Motive hinter dieser plötzlichen Hinwendung zu langjährigen feministischen Forderungen lässt sich sicher spekulieren, wie auch über den Rückgriff auf juristische und polizeiliche Maßnahmen, wenn man gleichzeitig von einer freien Gesellschaft spricht. Allerdings ist es insgesamt eine erfreuliche Entwicklung, dass selbst die konservativen Kreise sich nicht mehr damit begnügen, die Hetze gegen Geflüchtete zu befeuern und das Asylrecht noch weiter zu verschärfen – auch wenn dies leider nach wie vor mit Nachdruck betrieben wird und parallel stattfindet.

Vor dem Hintergrund der hitzig bis hasserfüllt geführten Debatte der letzten Woche ist #ausnahmslos ein angenehm ruhiges und besonnenes Plädoyer. Während die Details sicher Anlass zur Diskussion geben werden – wie beispielsweise die geforderte geschlechtersensible Pädagogik – stellen sich die Initiatorinnen insgesamt eindrucksvoll gegen Diskriminierung jeder Art und zeigen damit, dass aufrichtiger Feminismus keine selektive Angelegenheit sein kann und darf. Auf plakativ scharfe und drastische Töne, wie sie beispielsweise die deutsche „Vorzeigefeministin“ und Pegida-Versteherin Alice Schwarzer zuletzt erneut gegen Islam und Migration anschlug, verzichten die Forderungen bewusst und entschieden. Wie Mitverfasserin Kübra Gümüşay, in der Vergangenheit unter anderem Initiatorin von #SchauHin, bereits dem zdf gegenüber sagte, führt der Ruf nach unmittelbaren Sanktionen als Reaktion auf dramatische Ereignisse dazu, dass „wir unser Miteinander nach Ereignissen“ gestalten. Es sei wenig wünschenswert, in einer aufgeheizten Stimmung, darüber zu entscheiden, wie unser Zusammenleben aussehen soll. Ihre Forderung sei es vielmehr, Grundsatzentscheidungen mit mehr Ruhe zu fällen und Justiz wie Politik nicht nur reflexhaft kurzzeitig unter Handlungsdruck zu setzen. Und in der Tat vollzieht sich gesellschaftlicher Wandel nicht per Dekret und über Nacht – Reaktionismus kann keine Antwort sein. Es braucht langatmiges Engagement und beständigen Einsatz, um ein nachhaltiges Bewusstsein für das Unrecht sexueller Gewalt und die Schädlichkeit von Sexismus, Rassismus und anderen Diskriminierungsformen zu erzeugen, das es niemandem mehr erlaubt, sich in die Unwissenheit zu entziehen. Im Sinne eines solchen Bewusstseins für die Grundsätze einer besseren Gesellschaft leistet #ausnahmslos in seiner Vielfalt und Herangehensweise einen wertvollen Beitrag.

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2 Antworten

  1. Karl Eduard hatte Recht, die kapitalistische Gesellschaft ist verdorben bis ins Mark. Darüber kann auch kein zurecht gebogenes Weltbild linker Ideologen hinwegtäuschen.

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