Foto: Daniel Kerekes

„Es warten Armut und Arbeitslosigkeit auf die Menschen“

Das Kosovo kommt nicht zur Ruhe. Die nationalliberale Oppositionspartei Vetevendosje boykottiert das Abkommen zwischen dem Kosovo und Serbien, welches unter anderem eine Vereinigung aller serbischen Dörfer und Städte des Kosovos innerhalb des Landes vorsieht. So haben Mitgieder der Partei Vetevendosje bereits mehrmals Tränengas im Parlament gezündet. Wir sprachen mit dem ehemaligen Vetevendosje Mitglied und linkem Studierenden Aktivisten Rron Gjinovci über die aktuelle Situation im Kosovo.

Die Freiheitsliebe: Die deutsche Regierung hat den Kosovo zum sicheren Land erklärt. Das bedeutet, dass der Kosovo als Land ohne politische Verfolgung, unmenschliche Behandlung oder Missbrauch aus anderweitigen Gründen gilt. Liegt die Regierung Merkel damit richtig?

Rron Gjinovci: Menschen werden aus politischen Gründen verfolgt, unmenschlich behandelt oder aus anderen Gründen missbraucht. Dabei handelt es sich allerdings um Einzelfälle, nicht um ein Phänomen. Wenn man den Kosovo in dieser Hinsicht mit anderen Balkanländern vergleicht, gibt es kaum wesentliche Unterschiede.

Wie läuft die politische Verfolgung stattdessen ab?

Der Kosovo ist tatsächlich kein gefährlicher Ort für Aktivisten oder Oppositionelle. Natürlich hat die Regierung ihre Opposition nicht gerne (sei es die offizielle oder die inoffizielle), sie bekämpft sie jedoch auch nicht mit Gewalt. Man kann vieles frei aussprechen, jedoch wenig verändern. Man kann die Regierung oder wichtige politische Figuren anklagen oder Tatsachen über ihre Korruption veröffentlichen, die Justiz allerdings reagiert langsam oder gar nicht.

Warum sind die Roma besonders stark von Rassismus betroffen?

Roma sind die einzige nicht-weiße Minderheit im Kosovo. Sie pflegen einen grundlegend verschiedenen Lebensstil, der auch an ihrer Armut liegt. Somit unterscheiden sich diese Menschen symbolisch, was sich zu ihrer Unterdrückung verwenden lässt.

In Deutschland spricht man allgemein abwertend vom Wirtschaftsmigranten. Wer sind die Menschen, die aus dem Kosovo nach Deutschland fliehen?

Viele junge Menschen verlassen den Kosovo. Im Land ist allgemein verbreitet, dass Ärzte in Deutschland sehr willkommen sind. Ich habe mit vielen Medizinstudenten sprechen können, die vorhaben, nach Deutschland zu gehen. Auch andere Fachbereiche wie Elektrotechnik und Naturwissenschaften sind aus kosovarischer Sicht in Deutschland gefragt.

In einem Interview mit dem Handelsblatt hat der serbische Premier Aleksandar Vucic Deutschland für die Geflüchteten aus den Balkanstaaten verantwortlich gemacht. Er hat die Bundesrepublik aufgefordert, die „Sozialleistungen für Einwanderer aus dem Westbalkan zu kürzen“. Dann würde sich das Problem mit Migranten aus dem Westbalkan „sehr schnell“ erledigen. Stimmst du dem zu?

Aus meiner Sicht spielt es keine Rolle, ob die Bundesrepublik die Sozialleistungen kürzt oder erhöht. So lässt sich Einwanderung nicht aufhalten. Wir müssen uns auf die Gründe dafür konzentrieren, warum Menschen ihr Land verlassen. Die Menschen verlassen den Kosovo nicht nur weil es ihnen finanziell schlecht geht, sondern auch weil sie keine Hoffnung haben, wenn sie sehen wie korrupte Politiker Merkel oder anderen europäischen Führungspersonen die Hand schütteln. Sie haben das Gefühl dass diese korrupte Ära ewig andauern wird und von Europa unterstützt wird. Ich finde, die Bundesrepublik Deutschland müsste aufhören, mit korrupten Politikern im Kosovo und auch in Serbien zusammenzuarbeiten. Sie arbeiten mit ihnen zusammen, da sie unbedingt politische Stabilität zwischen Kosovo und Serbien bewahren wollen, während der Nationalismus in der Bevölkerung beider Länder auf dem Vormarsch ist. Sie wollen politische Stabilität während die Menschen weder finanzielle noch menschliche Sicherheit haben. Wenn sie den Menschen im Kosovo und in Serbien wirklich helfen wollen, müssen sie zuerst die Zusammenarbeit mit den korrupten Politikern einstellen.

Tausende Menschen aus dem Kosovo werden aus Deutschland abgeschoben und müssen wieder zurück in den Kosovo. Was für ein Leben erwartet diese „Rückkehrer“ dort?

Bei der Rückkehr warten Armut, Arbeitslosigkeit, soziale Unterversorgung und hoffentlich Proteste.

2008 feierten Hunderttausende die Unabhängigkeit des Kosovo, da sie ein besseres Leben versprach. Warum wurden diese Hoffnungen nicht erfüllt?

Die Menschen hatten sich ein wohlhabendes Land erhofft, und wirtschaftliche Entwicklung. Was sie bekamen waren Armut und Arbeitslosigkeit. Seit 1999 ist die Hälfte der arbeitsfähigen Bevölkerung arbeitslos. Uns wurde erzählt, dass allein die fehlende Unabhängigkeit unserer wirtschaftlichen Entwicklung und unserem Wohlstand im Weg steht. Aber mittlerweile haben wir alle die harte Realität erkannt.

Die EU und Deutschland haben dem Kosovo sogenannte Hilfsgelder bewilligt. was geschieht mit diesen Zahlungen aus Westeuropa?

Davon ist mir nichts bekannt. Das Geld fließt an EU-Personal in EU-Einsätzen im Kosovo. Soweit ich weiß gibt es für den Kosovo an sich keine Gelder. Vielleicht erhalten kleine Projekte in der Landwirtschaft oder Energiewirtschaft oder im Umweltschutz, die streng überwacht werden, Finanzierungen aus Deutschland und der EU.

Seit Juni 2008 beteiligt sich Deutschland an der Mission EULEX gegen Korruption und Verbrechen. Wo liegen die Probleme bei EULEX?

Auf EULEX bin ich bereits in der Vergangenheit eingegangen, Näheres können Sie hier nachlesen.

Deutsche Medien wie das Handelsblatt behaupten, die Zukunft des Kosovo liegt in der IT-Industrie, einer schnell wachsenden Industrie. Wer sind die größten Arbeitgeber im Kosovo?

Die größten Arbeitgeber im Kosovo sind Behörden, örtliche und nationale.

Deutschland war 1999 am NATO-Kriegseinsatz gegen Serbien beteiligt und deutsche Soldaten sind im Rahmen der KFOR nach wie vor im Land. Sind diese Soldaten nützlich?

Wenn man an die jüngsten Erklärungen des Patriarchen Irinej der serbisch-orthodoxen Kirche denkt, der sagte, dass der Kosovo mit Gewalt zurückerobert werden müsse, erscheinen deutsche Soldaten der Bevölkerung doch als nützlich. Niemand in der EU hat auf die Aussagen des Patriarchen reagiert. Nicht einmal die serbische Linke. Für mich ist das eine große Enttäuschung. Wir (die Linke im Kosovo) sind in einer äußerst schwierigen Situation. Wir stehen serbischen Elementen gegenüber die offen den Krieg fordern und niemand aus der Linken reagiert. Das bringt uns in die befremdliche Lage, dass wir den Abzug der fremden Soldaten aus dem Land nicht fordern können. Wir sind in gewisser Hinsicht gezwungen, imperialistische Kräfte wie die NATO zu begrüßen.

Was erwartest du von der deutschen Linken?

Ich erwarte, dass die deutsche Linke das Selbstbestimmungsrecht der Bevölkerung des Kosovo anerkennt, und auch dessen Unabhängigkeit. Die Besessenheit der Linken was die Souveränität angeht ist seltsam. Alle berufen sich auf die Grundlagen des internationalen Rechts wenn es um Souveränität geht, doch an die anderen Regeln, die Unterdrückung verbieten, mag sich keiner erinnern. Und die Unterdrückung im Kosovo begann 1989, als Serbien die Autonomie mit Gewalt beendete und ging damit weiter, dass man die albanische Bevölkerung des Kosovo vom öffentlichen Leben ausschloss – beispielsweise von der Arbeit in öffentlichen Unternehmen oder der Verwaltung. Eine ganze Nation war arbeitslos, hatte kein Anrecht auf Schulbesuch oder Studium. Was doch wohl gegen internationales Recht verstößt. All das waren Genozidhandlungen (ich verwende den Begriff „Genozidhandlungen“ absichtlich statt „Genozid“, da es keine Beweise gibt). Die deutsche Linke muss dies anerkennen und damit auch das Recht des Volkes im Kosovo auf Selbstbestimmung und die Unabhängigkeit des Kosovo. Was korrupte Politiker oder Marionetten imperialistischer Kräfte angeht – überlasst sie uns, der kosovarischen Bevölkerung. Wir kümmern uns um sie.

Wie agiert die Linke im Kosovo?

Die Linke im Kosovo ist sehr klein. Sie bildet sich langsam heraus aber ich bin optimistisch, dass wir in einigen Jahren eine progressive Linke haben werden. Junge Leute interessieren sich sehr für theoretisches Wissen und Aktivismus. Sobald das System versagt (was mit Sicherheit eintreten wird), wird die Linke als Alternative in Betracht kommen.

 

Rron Gjinovci KosovoÜber Rron Gjinovci

Rron Gjinovci ist 1989 in Priština, Kosovo geboren. Er begann zunächst ein Bachelorstudium der technischen Physik sowie Philosophie an der Universität von Priština. Nach einer symbolischen Aktion im Jahre 2010, bei der er und einer seiner Kollegen einen Rektor mit roter Farbe bewarfen, wurde er vom Studium ausgeschlossen. Zusätzlich kam Rron für die Aktion einen Monat in Lipjan in Haft. Rron ist Mitbegründer der Studentenorganisation „Students Movement for Equality – Study, Critic, Action“. Diese Organisation spielte eine zentrale Rolle bei Protesten der jüngeren Vergangenheit (2014), die erfolgreich waren und den Rektor der Universität zum Rücktritt zwangen. Rron verfasst Kolumnen für kosovarische Tageszeitungen wie „Zeri“ oder „Koha Ditore“ und hat bereits rund 30 Artikel veröffentlicht. Von 2008 bis 2012 war er in der Selbstbestimmungsbewegung „Levizja Vetevendosje“ aktiv. Er zog sich 2012 aus ideologischen Gründen aus der Generalversammlung von Vetevendosje zurück und ist heute kein Mitglied mehr. Anfang 2013 war er an der Organisation der Proteste gegen die Strompreiserhöhungen beteiligt. Heute, nachdem er seine Studienberechtigung in einem zweijährigen Verfahren wiedererlangt hat, studiert Rron wieder Philosophie.

Aus dem englischen übersetzt von Marion Wegscheider.

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Eine Antwort

  1. Vielen Dank für Interview. Ich finde es immer deutlich interessanter die jeweiligen Situationen aus einer Innensicht geschildert zu bekommen.

    „Im Land ist allgemein verbreitet, dass Ärzte in Deutschland sehr willkommen sind. Ich habe mit vielen Medizinstudenten sprechen können, die vorhaben, nach Deutschland zu gehen. Auch andere Fachbereiche wie Elektrotechnik und Naturwissenschaften sind aus kosovarischer Sicht in Deutschland gefragt.“

    Immer wieder sehr traurig so etwas lesen zu müssen. Das ist ja in vielen Ländern der Fall und man kann es den Menschen auch nicht verdenken, dass sie so handeln. Es ist oftmals praktisch ‚alternativlos‘ (wenn man ein Leben in Armut nicht als akzeptable Alternative ansieht). Letztendlich werden ihre Länder so jedoch „ausbluten“ und die Möglichkeiten für einen Aufschwung schwinden immer weiter.
    Besonders perfide, dass Länder wie das/der Kosovo die jahrelange Ausbildung dieser Menschen bezahlen, Länder wie Deutschland dann jedoch davon profitieren.

    „[…] Die deutsche Linke muss dies anerkennen und damit auch das Recht des Volkes im Kosovo auf Selbstbestimmung und die Unabhängigkeit des Kosovo. Was korrupte Politiker oder Marionetten imperialistischer Kräfte angeht – überlasst sie uns, der kosovarischen Bevölkerung. Wir kümmern uns um sie.“

    Vor allem den letzten Abschnitt dieses Zitats finde ich sehr wichtig noch einmal herauszustellen.

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