Serbien: Anzeigen gegen Aktivisten, weil sie streikende Arbeiter unterstützen

Letzte Woche erhielten unsere (Marks21) Aktivisten Anja Ilić und Marko Stričević gerichtliche Vorladungen, in denen sie für die Organisation einer unangemeldeten Versammlung am 16 Juni 2017 verantwortlich gemacht werden. Die fragliche Versammlung war eine Solidaritätsbekundung mit den streikenden Arbeitern von FIAT, Goša, Gorenje, und JP Ratko Mitrović, sowie mit Sozialarbeitern und Himbeerbauern. Es wurde auch Geld gesammelt für die Arbeiter in Goša, eine Fabrik für Schienenfahrzeuge, deren Hungerstreik am Tag darauf beginnen sollte. Neben unseren Mitgliedern wurden dieselben Vorwürfe auch gegen Svetlana Pandžić erhoben, eine ehemalige Arbeiterin in der IMT (Motoren- und Traktorindustrie), die sich dort für die Wiederaufnahme der Produktion engagiert.

Die Polizei hatte während der Versammlung keinen der Angeklagten kontaktiert, stattdessen wurden diese im Nachhinein anhand ihrer Redebeiträge identifiziert. Dies hatte zur Folge, dass noch zwei weitere Frauen angeklagt wurden, obwohl sie weder an den Versammlungen teilgenommen, noch diese mit organisiert hatten, sie hatten nur zufällig dieselben Namen wie zwei der Rednerinnen.

Man kann unmöglich einzelnen Aktivisten die alleinige Verantwortung für die Organisation dieses Aktes der Solidarität zusprechen, es war eine kollektive Anstrengung von Dutzenden von Menschen, die auf die Ankündigung des Hungerstreiks in Goša mit Spendenaufrufen reagiert haben. Angesichts des bedrückenden Mangels an Berichterstattung in den Medien sollte diese Aktion den Arbeitern zeigen, dass sie nicht allein sind, und der restlichen Bevölkerung den Arbeitskampf näher bringen. Je mehr Menschen sich diesem Kampf anschließen, desto näher sind wir dem Sieg der Arbeiter – einem Sieg im Kampf für die einfachen Menschen in Serbien, damit sie in Würde leben und arbeiten können.

Die Bewegung 7 Forderungen – deren Arbeit wir seit ihrer Gründung während der Proteste im April aktiv mitgestaltet haben – koordinierte mit der Studentenbewegung von Novi Sad die Unterstützung der Streiks in Belgrad und Novi Sad. 22.410 serbische Dinar (ca. 190 EUR) wurden gesammelt und an das Streikkomitee von Goša geschickt. Wir alle, als Organisatoren der Solidaritätsaktion, sind stolz darauf, das Richtige getan zu haben: für die vom Staat alleingelassenen Arbeiter einzustehen. Während des FIAT-Streiks war die Regierung auf der Seite der italienischen Investoren und verlangte die Auflösung des Streiks als Voraussetzung für die Aufnahme von Verhandlungen. Diese Forderung verletzte sowohl den Kollektivvertrag als auch das aktuelle Streikgesetz, das heißt, der Staat ignorierte sein eigenes Rechtssystem, um sich mit dem privaten Investor gutzustellen. Gleichzeitig ist der Staat sonst bei jeder Gelegenheit mehr als bereit, das selbe Gesetz anzuwenden, um seine Kassen zu füllen.

Die Geldstrafen, die das Gesetz über öffentliche Versammlungen von 2016 vorsieht, sind nämlich lächerlich hoch im Verhältnis zum Vergehen und zum Durchschnittseinkommen Serbischer Bürger. Der Staat, der von diesen Geldstrafen profitiert, scheint es aber ernst zu meinen. Nach diesem Gesetz beträgt die niedrigste Strafe 30.000 Dinar (250 EUR) für Einzelpersonen, die sich weigern, den Ort einer öffentlichen Versammlung zu verlassen, nachdem diese von den Behörden beendet wurde. Die Geldstrafen für unsere Kameraden – als vermeintliche Organisatoren des Treffens – sind wesentlich höher. Sie reichen von 100.000 bis 150.000 Dinar (ca. 850 – 1250 EUR) – pro Person.

Daher überrascht es nicht, dass die Polizei die Versammlung nicht bereits vor Ort beendete, obwohl sie anwesend war und die Rechtsmittel dafür hatte. Stattdessen wurden fünf Personen zu ‚Organisatoren‘ erklärt – ohne deren Personalien aufzunehmen und ausschließlich anhand ihrer Redebeiträge – die dann ein halbes Jahr später gerichtliche Vorladungen erhielten (einschließlich der zwei falsch identifizierten Frauen). Dass das Regime diese Strategien der Repression anwendet, um mit Geldstrafen seinen Haushalt aufzubessern, wurde klar, als im Oktober die ersten Bußgeldbescheide an Teilnehmer der Proteste im April verschickt wurden. Es sei daran erinnert, dass während dieser Proteste der Präsident Serbiens, Aleksandar Vučić und der Innenminister Nebojša Stefanović oft widerholten, dass „bei den Protesten keine Polizei anwesend sei“ und dass „jeder das Recht hat, seine Unzufriedenheit friedlich auszudrücken“. Im November erfuhren wir dann aus Polizeiberichten, dass gegen 23 Teilnehmer der oben genannten Proteste Anklage erhoben worden war. In allen öffentlich bekannten Anklagen wird dieselbe Straftat genannt: Organisation einer öffentlichen Versammlung ohne vorherige Benachrichtigung der Justizbehörden.

Die Unruhen im April und die Streikwelle im Sommer waren die wichtigsten politischen Ereignisse des vergangenen Jahres in Serbien. Die Proteste, die als direkte Reaktion auf das Wahlergebnis einsetzten, hatten keine offiziellen Anführer und somit auch keine einheitlichen Forderungen, auf denen man eine Strategie hätte aufbauen können. Daher wurde letztlich keine der zahlreichen Forderungen, die im Rahmen dieser Proteste vorgebracht wurden, durchgesetzt. Sie brachen aus, erreichten ihren Höhepunkt, ebbten ab und verschwanden als spontaner Ausbruch der Unzufriedenheit in der Bevölkerung. Sie waren jedoch für eine große Anzahl von Menschen eine bedeutende erste Erfahrung des direkten politischen Kampfes. Anfänglich ein Protest gegen Wahlbetrug, kam nach und nach ein breites Spektrum von Themen hinzu: von der Übermacht der herrschenden Partei und der bedrohten Pressefreiheit über die diskreditierten und inkompetenten Oppositionskräfte bis hin zur katastrophalen Wirtschaftspolitik, die den Zugang der Menschen zu Bildung, Gesundheitsversorgung, Arbeit und allgemein menschenwürdigen Lebensstandards einschränkt. Die extreme Rechte hatte in den frühen Tagen der Proteste versucht, diese für sich einzunehmen, konnte aber relativ leicht von den Demonstrationen ferngehalten werden, weil die linken Kräfte Themen zur Sprache brachten, mit denen sich eine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung identifizieren konnte.

Die Streiks erreichten eine Größenordnung, wie man sie in Serbien seit Langem nicht mehr gesehen hatte. Die Arbeiter von Fori tekstil aus Kragujevac waren die ersten, die einen Acht- (statt zwölf-) Stundentag forderten, sowie Zuschläge für Überstunden und Nachtschichten. Der größte Auslöser für weitere Streiks war der FIAT-Streik in Kragujevac, obwohl er schließlich durch die vereinten Bemühungen des Streikkomitees, das die Forderungen der Arbeiter nicht respektierte, und des Staates, der die Interessen des privaten Investors schützte, niedergeschlagen wurde. Aber die Streikenden von Valjevo Gorenje konnten eine Lohnerhöhung durchsetzen. Aktivisten von ‚7 Forderungen‘ und unserer eigenen Organisation trugen dazu bei, die Arbeiterkämpfe zu vernetzen und unterstützten sie bei Austausch und Entwicklung von Taktiken und Strategien. Wir besuchten die Städte, in denen Arbeiter streikten, sprachen mit ihnen und halfen bei der Organisation von Protesten und anderen Solidaritätsaktionen. Für uns ist es von größter Wichtigkeit, dass wir den Arbeitern beistanden, in Zeiten des Sieges – wie in Gorenje – , aber auch in Zeiten des Kampfes, als sie vom Staat verraten wurden, der ausländische Investoren mit Versprechen von „Hochqualifizierten, billigen Arbeitskräften“ lockt, Hungerstreiks und Suizid der Arbeiter ignoriert und Aktivisten im Arbeitskampf mit sechsstelligen Bußgeldsummen droht.

Diese Geldstrafen werden uns nicht davon abhalten, eine wirtschaftliche und politische Alternative für Serbien aufzubauen, wir werden auch weiterhin alle Bewegungen vereinen, deren Ziel es ist, dieses System der Ausbeutung zu zerstören, dass vom Elend der Menschen profitiert. Begleitet uns zum Belgrader Gericht (Ustanička 14), wo unsere Kameraden am 7. Februar um 10 Uhr vor Gericht stehen. Lasst uns den Kampf der arbeitenden Menschen für ein Leben in Würde unterstützen. Solidarität ist unsere Stärke!

Übersetzt aus dem englischen von San Holo.

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