Thomas Müntzer

Reformation und Revolution – Evangelische Kirche glorifiziert Luther, Linke vergessen Revolutionäre

Während die evangelische Kirche angesichts des Reformationsjubliäums einen Personenkult um Luther inszeniert, üben sich große Teile der marxistischen Linken in orthodoxer Religionskritik. Der Vielstimmigkeit der Reformation, die auch revolutionäre Theologen wie Thomas Müntzer kannte, werden beide Positionen nicht gerecht. Um der Geschichte der Reformation gerecht zu werden und einen emanzipatorischen Umgang mit Religion zu finden, müssen wir historisch analysieren und Dinge dialektisch einordnen können.

2017 tischt die Evangelische Kirche Deutschland groß auf: Der Thesenanschlag Martin Luthers jährt sich zum 500. Mal. Alle Kirchentage widmen sich Luther, es gibt Lutherstatuen in allen Neonfarben, Luther-Playmobilfiguren, die Theater texten über Luther hoch und runter und Martin Geissler schreibt ein Buch darüber, was Luther heute wohl sagen würde. Luther als Werbefigur, als Maskottchen, als Verkaufsstrategie. Kooperationspartner sind Bundesregierung und Deutsche Bahn. Die DB macht ein Geschäft mit Sondertickets zur ‚Weltausstellung‘ und dem sogenannten ‚Luther-Ticket‘ durch Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt. Luther zwischen den Reitern „Service für Fußball-Fans“, „Reisen mit Kindern“ und „Umweltfreundlich reisen“. Das Kultusministerium fördert zahlreiche Projekte. Unter dem Titel „500 Jahre Reformation – Aufbruch zur Freiheit“ wurde eine eigene Website eingerichtet. Eine Ausstellung im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg feiert die „Revolutionäre“ (Originalzitat) Kopernikus, Luther und Kolumbus. Scheint diese Zuschreibung bei Kopernikus noch berechtigt, so wird sie spätestens bei Kolumbus zur eurozentristischen Selbstbeweihräucherung, die die Geschichte der Herrschenden – hier im „Alte Welt“-„Neue Welt“-Gefälle – reproduziert.

Das Feuilleton ist derweil voll von Lobeshymnen auf Luther und seine heroischen Taten, zwar müsse man* seinen Antijudaismus kritisieren, aber das sei der Zeit geschuldet. Die linken Blätter hingegen üben sich meist in platter Religionskritik: Das ganze Zinnober sei abzulehnen, weil Religion eh doof sei und außerdem sei Luther Antisemit und frauenfeindlich. Als Beleg werden die schlimmsten Zitate herausgekramt (1) – das spricht zwar für sich, doch könnten linke Zeitungen ruhig etwas mehr Recherchearbeit aufbringen. Schließlich sind sie sonst so bemüht Ereignisse in ihren historischen Kontext einzuordnen.
Die Zeit der Reformation war eine Krisenzeit und eine Zeit der Umbrüche. Sie besteht nicht nur aus Martin Luther und vielleicht noch Philipp Melanchthon, sondern ist eine vielgesichtige Strömung voller Widersacher gewesen. Nicht nur Professoren und Theologen haben diskutiert. In dem von der Reformationsbewegung angestachelten Bildersturm räumten hauptsächlich junge Gesellen und Männer ohne politisches Mitspracherecht die prunkvollen Kirchen leer. Im Vergleich dazu erscheint die Plünderung eines Supermarktes bei G20 in Hamburg geradezu wie ein Witz. An der Schwelle vom Mittelalter zur Neuzeit geht es um alles: Um die Sicherung eines materiellen Mindeststandards zum Überleben und politisches Mitspracherecht, diesen zu fordern und zu verteidigen. Die Aufstände von Bäuer*innen und Armen häuften sich.

Wer landet in den Geschichtsbüchern?

Die EKD glorifiziert nun Luther, die revolutionären Forderungen und Kämpfe der Zeit scheinen im Schatten der für Marketingzwecke aufgestellten Lutherstatuen zu verschwinden. Die Geschichtsschreibung wird von den Herrschenden gemacht und wie immer ist die Frage: Wer schafft es in die Bücher, die die wichtigsten Ereignisse hervorheben und wer fällt unter den Tisch – oder wird bewusst unter den Teppich gekehrt?

Dieses Schicksal ereilt beispielweise Thomas Müntzer, der erst Freund und Anhänger Luthers war. Ebenfalls Theologe, vertritt er zunächst prinzipiell lutherische Thesen, spitzt diese allerdings deutlich zu. Will Luther lediglich die Kirche reformieren, so zielt Müntzer auf die gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse. Luther rebelliert unter Lebensgefahr gegen das Papsttum und den Ablass, aber um seine Durchschlagskraft zu erhöhen, kooperiert er mit den weltlichen Kurfürsten. Diese erhoffen sich von der Reformation durch eine Schwächung der katholischen Kirche mehr Macht.
Müntzer rebelliert mit, wobei er die weltliche Obrigkeit als Bündnispartner ausschließt. In der provokanten Fürstenpredigt (2) von 1524, ein Jahr vor seiner Hinrichtigung auf der Burg Allstedt gehalten, bezeichnet er die gemeinen Leute als „Gottis rechte schuller“ und stuft sie als fähigere Gottesfürchtige ein als den Adel. Dieser habe sich durch lasterhaftes Verhalten und Gier nach Reichtum beschmutzt. Lediglich durch einen Anschluss an die Bewegung der Reformation als Nachfolge Christi könnten sie sich von ihrer Schuld lösen und den rechten Weg einschlagen.

Jesus taugt nicht zur Legitimation von privatem Reichtum

Das klingt nach Selbstkasteiung und Lustfeindlichkeit, die in den heutigen hedonistischen Zeiten gerne kritisiert werden, ist aber revolutionär. Adel und Klerus schöpften die bäuerliche Arbeitskraft bis zum Umfallen ab, die Ausbeutung war maßlos. Für die Bauern reichte es kaum zum Leben, der Adel und die höheren Stände des Klerus lebten gut. Der Aufruf zur ‚Nachfolge Christi‘ mutet ebenfalls wenig aufrührerisch an, führen es doch Theologen seit jeher im Mund, um den Stand der Armen und Bauern zu unterdrücken. So auch Luther, der in seinem Text Von der Freiheit eines Christenmenschen (3) scharf zwischen leiblicher und theologischer Freiheit unterscheidet. Die leibliche Freiheit ist natürlich weniger wert als die theologische und auch ein Knecht oder eine Magd könnten theologisch frei sein, im Innern, indem er oder sie gläubig sei. Für Luther ist ein Auflösen der Stände, ein Ende oder eine Abschwächung der Ausbeutung ganz undenkbar.

Nicht so bei Müntzer. Er liest die Nachfolge Christi anders. Christus ist für ihn ein Mann, der nicht mehr als die Kleidung an seinem Körper besessen hat und all seine Jünger und Jüngerinnen bat, ihm nachzufolgen und das Gleiche zu tun. Ein Mann, der sich unter die Armen mischt und einer von ihnen wird, der sich den Prostituierten und Zöllnern, also den schlimmsten Sünder*innen, zuwendet und sie in die Gemeinschaft eingliedert. Außerdem ist Jesus eine Figur, die ein interessantes Verhältnis zur Arbeit hat. Er und seine Jünger*innen arbeiten nicht für andere, sie sind Gäste und Jesus verpflichtet sich, das genug für alle da sei (4). Das ist kein ausgeklügeltes Wirtschaftsmodell, aber darum soll es hier auch nicht gehen. Es geht um die Schlüssigkeit von Argumentationsstrukturen, um Ausbeutung zu legitimieren. Der Verweis auf Jesus, um 97% der Bevölkerung zu knechten, taugt eigentlich allzu offensichtlich nicht dazu. Der Jesus der Bibel kann nicht als Rechtfertigung für die Verteilung von Besitz im 16. Jahrhundert herhalten.

Müntzer dreht die Theologie der Zeit vom Kopf auf die Füße

Müntzer dreht die Argumentation folglich um: Nicht die Armen, Knechte, Mägde, Bäuerinnen, Bauern und Handwerker werden beständig ermahnt, sich an den Glauben zu halten, um frei zu werden. Müntzer reiht sich nicht in den Kanon der autoritätshörigen Theologen und Machthaber ein, die diese Floskel missbrauchen, um jene Gruppen zu knechten. Müntzer ermahnt hingegen die Obrigkeit, prangert lasterhaftes Verhalten an und geht so weit, dies im Besonderen der weltlichen Obrigkeit vorzuhalten.

Am Ende der Fürstenpredigt spricht Müntzer von einer Art Recht zum Widerstand des gemeinen Volkes – wer das Schwert führt, soll durch das Schwert umkommen:

„Sie haben das Land nicht durch das Schwert gewonnen, sondern durch die Kraft Gottes, aber das Schwert war das Mittel, wie uns Essen und Trinken ein Mittel zum Leben ist. Genauso notwendig ist das Schwert, um die Gottlosen zu vertilgen, Röm. am 13. Dies soll nun redlicherweise und rechtmäßig durch unsere teuren Väter, die Fürsten, geschehen, die sich zu Christus mit uns bekennen. Wo sie aber das nicht tun, so wird ihnen das Schwert genommen werden, Dan. am 7. Kapitel. Denn sie bekennen ihn also mit den Worten und leugnen ihn in der Tat, Tit. 1. […] Wollen sie geistlich sein und die Kunst Gottes nicht berechnen, 1. Petr. 3, so soll man sie absetzen, 1. Kor. 5. […] Anders kann die christliche Kirche nicht zu ihrem Ursprung zurückkehren. Man muss das Unkraut aus dem Weingarten Gottes ausrupfen […]“ (5) [Übertragen und Kursivsetzung der Bibelstellen, D.W. In der Fußnote findet sich das Originalzitat in Frühneuhochdeutsch.]

Sollte die Obrigkeit gegenüber den gemeinen Menschen Gewalt jeglicher Art – womit Müntzer bereits eine Form der strukturellen Gewalt zu meinen scheint – anwenden, so sind diese berechtigt, mit Gewalt zurückzuschlagen und aufständisch zu werden. Sollten sich die Adeligen und weltlichen Fürsten auf die Seite der Aufständischen schlagen, so erhielten sie Absolution, verkündet Müntzer.

Aufstände im Gebiet des heutigen Südwestens Deutschlands

Um die ganze revolutionäre Kraft der Müntzerschen Interpretation des Christentums zu verstehen, muss ein Blick auf die Folgen seiner Worte geworfen werden. Seine Fürstenpredigt erzürnt die beiden Adeligen, die ihr gelauscht haben. Müntzer verliert seine Anstellung in Allstedt, was ihm nicht zum ersten Mal in seinem Leben passiert und flieht nach Mühlhausen, wo er Pastor wird. Dort stellt er sich an die Spitze einer aufständischen Gruppe von Bauern. Der Ablasshandel, gegen den Luther protestiert, ist nicht das einzige Problem. Zum Ablass kommt der Zehnt, diverse Zölle und Abgaben für die weltliche Obrigkeit und die Fronarbeit. Freie Bauern sind besser gestellt als leibeigene Bauern, Knechte und Mägde schlechter noch als diese, Tagelöhner, Bettler und Prostituierte bilden den absoluten Boden der arbeitenden Klasse – die also, unter denen sich Jesus aufgehalten hat.

Müntzer stachelt die Aufständischen weiter an und ermutigt sie zum bewaffneten Kampf. Damit sind er und seine Truppe Teil des Deutschen Bauernkrieges. In verschiedensten Städten im Südwesten des heutigen Deutschlands begehren die Bauern und Knechte gegen die Obrigkeit auf. Die Wellen der Reformation stacheln sie zusätzlich an, Martin Luthers Thesen haben es auch in die entlegensten Winkel geschafft, seine Schrift Von der Freiheit eines Christenmenschen, wird von den Menschen auf die Freiheit von der Leibeigenschaft und der Ausbeutung hin gelesen. Die feinen Unterschiede, die Luther im Gebrauch seines Freiheitsbegriffes macht, gehen unter.

12 Artikel von Memmingen – eine frühe Formulierung allgemeiner Menschenrechte

Böblingen, Wurzach, Leipheim, Würzburg, Forchheim stehen auf und liefern sich zum Teil Schlachten mit den Heeren der Obrigkeit. In Memmingen werden 1525 von einer Gruppe Bauern die 12 Artikel von Memmingen (6) verfasst. Diese leiten sich aus bestimmten Bibelstellen ab und sind eine frühe Formulierung einer Erklärung allgemeiner Menschenrechte – auch derer des Dritten Standes. 200 Jahre vor Rousseau und der Epoche der Aufklärung!
1525 findet auch die Schlacht von 6000 Bauern unter der Führung Müntzers bei Frankenhausen statt. Mit Mistgabeln und improvisierten Waffen versuchen sie, sich einem gut ausgerüsteten Heer entgegenzustellen – und scheitern vernichtend.
Müntzer wird gegen ein Kopfgeld gesucht und gefasst, dann tagelang gefoltert. Er schreibt seinen letzten Brief, in dem er die Bauern auffordert, nicht weiterzukämpfen. Er weiß, dass die Bauern ohne den Beistand gut ausgerüsteter Soldaten ihr Leben verlieren werden und sich die Repression und Ausbeutung nur verschärfen würden.

Luther hingegen schreibt zur gleichen Zeit sein Pamphlet Wider die mörderischen Rotten der Bauern, die man mit Gewalt niederschlagen müsse (7). Er bestätigt damit seine Position als Reformator und Rebell innerhalb der Kirche und als reaktionärer Diener der weltlichen Obrigkeit. Beides gehört zu Luther.

Müntzer wird hingerichtet, sein Kopf zur Abschreckung öffentlich aufgespießt.
In den Ländern, die den Sozialismus für sich proklamiert hatten, wird er als erster Verfechter der Arbeiter*innenbewegung gelistet. In der BRD wird er totgeschwiegen. Sein Name verschwindet weitgehend aus den Geschichtsbüchern oder taucht an der ein oder anderen Stelle nur marginal auf.

Nachwirken – Müntzer, Liebknecht, Lenin

Ernst Bloch schreibt 1921 das Buch Thomas Müntzer als Theologe der Revolution. Theologie und Marxismus schließen sich hierin nicht aus, im Gegenteil. Müntzer wird von Bloch geradezu als ein Vorläufer von Revolutionären wie Liebknecht oder Lenin gesehen. Mit außergewöhnlicher Härte klassifiziert Bloch auch Luther:

„Erst recht ist die Militär- und Fürstenklasse, der Luther schließlich alle Kraft seiner dämonischen Natur und alle Perversion seines paradoxalen Freiheits- und Glaubensbegriffs hingab, in Deutschland, trotz allem, zusammengebrochen. […] Nun stehen, großgewachsen, die Erben der Münzerschen Webergesellen und Tuchknappen auf dem revolutionären Plan, nicht mehr zu vertreiben. Die Zeit geht aufrecht unter ihrer Last, ihrer Sendung; die letzte sozial mögliche Klasse, Erbin der Bauernschaft, losreißende Tangentialkraft ins Unendliche, wird befreit, die Sprengung des Klassen- und Machtprinzips, die letzte irdische Revolution steht in Geburt. […] Aber strahlend erscheint uns daran Thomas Münzer in Bild und Absicht wieder, Liebknecht mannigfach verwandt, als unerbittlicher Organisator deutlich genug, um selbst Lenin und seinem Geschlecht nicht fernzustehen […]“ (8)

Die „losreißende Tangentialkraft ins Unendliche“ erscheint als überzeitlich fundierte Komponente, die für Bloch für einen revolutionären Kampf wichtig zu sein scheint. Der Theologe Müntzer verortet den politischen Kampf gegen Unterdrückung in der Theologie. Er erobert gewissermaßen die Theologie für die zurück, die eigentlich im Zentrum des Neuen Testaments stehen, so man es sozialrevolutionär liest – und schmiedet die Theologie somit zur Waffe gegen die um, die mit ihr herrschen und ausbeuten wollen.

Befreiungstheologie – Marxismus als Methode

Ideologisch verwandt mit dieser theologischen Richtung ist die Theologie der Befreiung, die in Südamerika entstanden und dort besonders verbreitet ist. Ihre Theoretiker leisten von Anfang an Theoriebildung zur Verbindung des Marxismus (als Methode der Analyse der Verhältnisse) und der Kernaussagen des Glaubens. So überlegt der Theologe Clodovis Boff, warum der Marxismus relevant für die Theologie sei und wie man ihn als Methode in die Theologie integrieren könne:

„Der ‚Marxismus‘ stellt Theorie und Praxis einer Geschichtsauffassung dar, die von den Unterdrückten ausgeht. Es gibt nicht viele Interpretationen der Welt, die von unten ausgehen, die den Ort des Armen, des Letzten, des Ausgeschlossenen bevorzugen. Von diesem Gesichtspunkt her besitzt der Marxismus eine sehr große Affinität zur jüdisch-christlichen Religion. […] Aber es ist wichtiger, den ‚Marxismus als ein Ensemble von grundlegenden Prinzipien zu verstehen, mit denen die Gesellschaft begriffen werden kann. Genau das ist im Grunde der ‚Marxismus‘.“ (9)

Blickt man in die Geschichte und zurück zu Müntzer fungiert überdies der Glaube an eine metaphysisch gerechtfertigte Überzeitlichkeit und damit unbedingte Notwendigkeit einer Gleichheit aller als eine große mobilisierende Kraft der Massen.

Reformation kann nicht Nostalgie und Personenkult bedeuten

Nicht nur die „Bewegung“ auch die christlichen „Institutionen“, die theologischen Institute der Universitäten, die Kirchen und kirchlichen Verlage, müssen sich fragen, was eine Theologie als kritische Wissenschaft ausmacht. Diese Frage muss immer wieder neu gestellt werden – denn das ist Reformation: Ein Nachvorneblicken, eine radikale Kritik der Verhältnisse, eine immerwährende Selbstkritik der eigenen Theologie. Reformation ist nicht Personenfetisch, in dem eine Person als Kultfigur zur einzigen Persönlichkeit der Reformation stilisiert wird.

Dieses Bekenntnis zur Reformation bedeutet jedoch keinen Verzicht auf Religionskritik. Wir sollten diese stets üben, wenn Religion als „Opium des Volkes“ fungiert – Opium ist zur Zeit Marx’ als ruhigstellendes Mittel in Gebrauch. In diesem Sinne meint der Terminus einen Gebrauch von Religion als Herrschaftsinstrument zur Ruhigstellung etwaiger Aufständischer. Dieses Verständnis reiht sich in die Tradition einer Verteidigung der Obrigkeit, die auch Luther im 16. Jahrhundert bemüht.
In diese Kategorie fällt auch der Missbrauch und die Instrumentalisierung Luthers als deutscher Held im 1. Weltkrieg und das Anknüpfen der Nazis an seine antisemitischen Schriften. In diese Kategorie fällt ebenfalls die personenbezogene „Heiligenverehrung“ des Reformationsjubiläums, die an katholischen Wallfahrtstourismus erinnert. Die Figur Luther, Hammer links, Bibel rechts, wird zum Hype gepuscht und als Marketingstrategie benutzt. Luther erscheint als der Papst der Evangelischen Kirche Deutschlands – wer hätte gedacht, dass Papsttum und Personenzentriertheit mal dem evangelischen Christentum zugeschrieben würden.

Religionskritik kommt aber auch aus verschiedenen Strömungen progressiver Theologie, die sich bereits die Frage stellen, was kritische Theologie bedeutet. So widmet sich eine Gruppe von Theolog*innen dem Projekt Radicalizing Reformation, um Reformationsthesen abseits des Luther-Opiums rational weiterzudenken und einen kritischen Gegenpol zu den Reformationsfeierlichkeiten zu bilden. Sie beginnen ihre Homepage mit einem Zitat des Theologen und Widerstandskämpfers Dietrich Bonhoeffer:

„Ernsthafte Besinnung aufs Evangelium und scharfe Augen auf die Gegenwart sind die Kräfte, aus denen die lebendige Kirche neu geboren wird. Die kommende Kirche wird nicht ‚bürgerlich‘ sein. (Sanctorum Communio, DBW 1, 292)“ (10)

Die Vokabeln Bonhoeffers und Blochs, die Forderungen und Analysen der Denker der Befreiungstheologie sind alle nicht weit weg vom Marxismus, arbeiten mit seinen Methoden, stellen Forderungen nach Veränderung der Produktionsverhältnisse und nach der Erfüllung der wahren Wortbedeutung von „Demokratie“: Herrschaft der Armen.

Kommt Religion ‚von unten‘ oder ist sie Ergebnis kritischer Auseinandersetzung mit Texten und Inhalten, die Menschen seit jeher bewegen, dann hat sie Kraft zur Veränderung und rechtfertigt die Ermächtigung über Unterdrückungsverhältnisse. Diese Praxen in Theologie und Religion sollten Gläubige des Marxismus nicht von sich weisen. Ein emanzipatorischer Umgang mit Religion braucht einen Mittelweg zwischen Luther-Kult und orthodox-marxistischer Dämonisierung von Theologie und Glauben.

Ein Beitrag von Daphne Weber, Mitglied im Bundesvorstand von DieLinkeSDS

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Fußnoten

(1) so z.B. die trotzkistische Seite Klasse gegen Klasse. <https://www.klassegegenklasse.org/zehn-von-luthers-schlimmsten-zitaten-zu-frauen/> (letzter Zugriff 28.06.17)
(2) vgl. Thomas Müntzer: „Auslegung des anderen Unterschieds Danielis.“ In: Ders.: Schriften und Briefe: kritische Gesamtausgabe. Hrsg. Günther Franz. Gütersloh, 1968.
(3) vgl. Martin Luther: Von der Freiheit eines Christenmenschen. entn.: http://gutenberg.spiegel.de/buch/martin-luther-sonstige-texte-270/6> (letzter Zugriff 11.07.17)
(4) vgl. Matthäus 6, 28-34. Zum Nachlesen
(5) Thomas Müntzer: „Auslegung des anderen Unterschieds Danielis.“ In: Ders.: Schriften und Briefe: kritische Gesamtausgabe. Hrsg. Günther Franz. Gütersloh, 1968. S. 261. „Sie haben das lant nicht durch das schwerdt gewonnen, sonder durch die krafft Gottis, aber das schwerdt war das mittel, wie uns essen und trincken ein mittel ist zu leben. Also noetlich ist auch das schwerdt, die gotlosen zu vertilgen, Rom. am 13. Das aber dasselbige nw redlicher weyse und fuglich geschee, so sollen das unser thewren veter, die fursten, thun, die Christum mit uns bekennen. Wo sie aber das nicht thun, so wirt yhn das schwerdt genommen werden, Danielis am 7. capitel, denn sie bekennen yhn also mit den worten und leugknen sein mit der that, Titum 1. […] Wollen sie geistlich sein und die kunst Gottis nit berechnen, 1. Petri 3, so sol man sie wegkthun, 1. Corint. 5. […] Anders mag die christliche kirche zcu yrem ursprung nicht widder kumen. Man muß das unkraut außreuffen auß dem weingarten Gottis […]“
(6) vgl. 12 Memminger Artikel entn. Stadtarchiv Memmingen: https://stadtarchiv.memmingen.de/918.html
(7) vgl. Martin Luther: Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern. entn.: .
(8) Ernst Bloch: Thomas Müntzer als Theologe der Revolution, Gesamtausgabe Bd. 2, Frankfurt am Main, 1969. S. 110.
(9) Clodovis Boff: „Zum Gebrauch des ‚Marxismus‘ in der Theologie.“ In: Peter Rottländer [Hrsg.]: Theologie der Befreiung und Marxismus. Münster 1978. S. 37-39.
(10) vgl. Radicalizing Reformation, offizielle Homepage: <http://www.radicalizing-reformation.com/index.php/de/> (letzter Zugriff 11.07.17).

Photo by Stifts- och landsbiblioteket i Skara

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