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Giftgas – der unsichtbare Tod. Im Gespräch mit Jakob Reimann.

Aus militärischer Sicht ist der Einsatz von Giftgas ein ineffektives Mittel, jedoch ist es eines der stärksten Werkzeuge der Kriegspropaganda überhaupt. Beim Anblick der vom Gas getöteten Kinder werfen wir unseren Verstand über Bord und selbst der prinzipientreueste Pazifist steht mit dem Rücken an der Wand – das ist die Macht des Gases.

Dr. Milena Rampoldi von ProMosaik interviewte den Die Freiheitsliebe-Autoren Jakob Reimann – der an der TU Dresden Biochemie studierte – zum Thema Giftgas.


Milena Rampoldi: Wie gestaltet sich ein Giftgasanschlag? Welche Giftgase werden in Kriegen vor allem eingesetzt?

Jakob Reimann: Die Anfänge chemischer Kriegsführung reichen lange zurück, bis zum Troja der Peloponnesischen Kriege oder zum England von Heinrich III., doch die Barbarei von Giftgasanschlägen, wie wir sie heute kennen, ist ein Kind der Industrialisierung Europas und etwa 100 Jahre alt. Ein Fakt, der uns so wohl nicht bewusst ist: es war es immer wieder die deutsche Industrie, die Meilensteine auf dem Gebiet des „unsichtbaren Todes“ gesetzt hat und damit wie keine andere Blut an ihren Händen hat.

Bayer, BASF und Hoechst haben mit der Massenproduktion von Giftgas im Ersten Weltkrieg – dem „Krieg der Chemiker“ – den Grundstein der chemisch-industriellen Kriegsführung gelegt. Den ersten Masseneinsatz von Chlorgas erlebten wir in der Zweiten Flandernschlacht, als das Deutsche Heer Hunderte Kanadier und Algerier mit Gas tötete. Giftgas dieser Generation, also vor allem Chlorgas, Phosgen und Senfgas, setzt sich beim Kontakt mit Feuchtigkeit zu Salzsäure um. Das heißt, bei Exposition füllen sich Augen, Rachen und vor allem die Lunge mit ätzender Salzsäure. Und da diese Gase schwerer sind als Luft, füllten sie die Täler und vor allem die Schützengräben, in denen die Menschen elendig zugrunde gingen.

Als zentrales Vernichtungstool im Menschheitsverbrechen des Holocaust tötete das Zyklon B der BASF-Tochter Degesch in den Gaskammern der Nazis über eine Million Menschen. Wie zynisch klingt hier die Aussage von Trumps Pressesprecher Spicer, der – um Assad und Russland zu diffamieren – jüngst behauptete, nicht einmal Hitler wäre so tief gesunken und hätte Chemiewaffen eingesetzt…? Auch Zyklon B reagiert mit der Feuchtigkeit der menschlichen Schleimhäute, jedoch zu Blausäure, die den Sauerstofftransport im Blut blockiert. Die Menschen sterben an sogenannter innerer Erstickung. Um vielleicht im Ansatz zu begreifen, wie grauenvoll dieser Tod sein muss, lass‘ dieses Foto aus dem Innern einer Gaskammer in Auschwitz einen Moment auf Dich wirken:

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Der bis heute größte Einsatz von Massenvernichtungswaffen seit den Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki und der größte Chemiewaffeneinsatz aller Zeiten ist die Operation Ranch Hand als Teil des Vietnamkriegs, in deren Zuge die USA 76 Millionen Liter Chemikalien auf den vietnamesischen Dschungel niederregnen ließen – das berühmtberüchtigte Agent Orange, das zusammen mit Monsanto zu einem großen Teil von der deutschen Bayer AG hergestellt wurde. Die Menschen werden krank, sie bekommen Krebs, besonders Leukämie, ihr Erbgut wird geschädigt, sie bringen über Generationen missgebildete Kinder zur Welt.

Gerhard Schrader entwickelte Ende der 1930er in den Laboren der I.G. Farben (heute Bayer) die Nervengifte Tabun und Sarin. Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von Bayer AG: Corporate History & Archives, alle Rechte vorbehalten.

In den letzten Jahrzehnten ging die Entwicklung weg von den klassischen Giftgasen des 1. Weltkriegs hin zur nächsten Generation der noch wesentlich tödlicheren Nervengase, genannt seien insbesondere die drei Vertreter Tabun und Sarin – die beide übrigens unter den Nazis ebenfalls in Deutschland entwickelt wurden, von der IG Farben, die später in die heutigen Großkonzerne AGFA, BASF, Bayer und Sanofi aufgeteilt wurde – sowie das VX-Gas, das noch einmal etwa um das 10-fache tödlicher ist als Sarin.

Nervengifte werden eingeatmet und auch über die Haut aufgenommen, wobei Kleinstmengen – weniger als ein Stecknadelkopf – bereits tödlich sind. Sie attackieren das Nervensystem, wodurch die Muskelfunktionen blockiert werden. Symptome sind Zittern, Zucken der Muskulatur, Kopfschmerzen, Übelkeit, Erbrechen, Durchfall, Kontrollverlust von Harn- und Stuhlgang, Angstzustände, Atemnot und starke Krampfanfälle, wobei innerhalb einiger Minuten bis weniger Stunden der Tod schließlich durch Atemlähmung und folglich Ersticken einsetzt.

Der Menschheit – und in dem Falle der deutschen Industrie – hat es nie an Kreativität gemangelt, um ihre Feinde auf immer abartigere Weise zu töten.


Milena Rampoldi: Gibt es gesundheitliche und umwelttechnische Langzeitkonsequenzen der Giftgasangriffe?

Jakob Reimann: Anders als etwa Atomwaffen oder die insbesondere von den USA massenhaft eingesetzte Uran-Munition, die die Umwelt auch in Jahrmilliarden noch radioaktiv belasten wird, sind die Langzeitschäden von Giftgas auf die Umwelt marginal. Durch Wind und chemische Zersetzung ist das unmittelbare Einsatzgebiet eines Giftgasanschlags innerhalb von Stunden oder wenigen Tagen faktisch dekontaminiert.

Das Hauptproblem liegt woanders. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Hitlers Chemiewaffen im großen Stile einfach in der Nord- und Ostsee versenkt. Dasselbe geschah im Zuge der globalen chemischen Abrüstung in den folgenden Jahrzehnten überall auf der Welt – mit dem Ergebnis, dass wir in jedem Weltmeer (bis auf die Arktis) Hunderttausende Giftgasgranaten haben, die am Meeresgrund vor sich hin rosten und für die Meeresflora und -fauna potentiell zur Katastrophe werden können, ein schlummernder Ökozid.

Die Langzeitschäden eines Giftgasangriffs auf den Menschen sind vernachlässigbar. So zeigten Studien über den Sarin-Anschlag auf die U-Bahn in Tokyo 1995, bei dem zwölf Menschen starben und mehr als 5.000 verletzt wurden, dass die neurologischen Schäden der Überlebenden innerhalb von Tagen, wenigen Wochen oder in Einzelfällen einigen Jahren abklangen. Wer einen Sarin-Anschlag überlebt, wird wieder gesund.

Anders das bereits erwähnte, massenhaft in Vietnam eingesetzte Agent Orange. Als Entlaubungsmittel ist es eine Flüssigkeit, kein Gas, und setzt sich so auf der Erde ab. Über 3 Millionen Hektar vietnamesischer Landschaft wurden mit Agent Orange besprüht, das als Verunreinigung das extrem giftige, krebserregende, fetotoxische und erbgutschädigende Dioxin enthält und von Wissenschaftlern auch 40 Jahre nach dem Einsatz in hohen Konzentrationen im vietnamesischen Dschungel nachgewiesen wurde. Zu den drei Millionen über die Jahrzehnte erkrankter Vietnamesen und Generationen missgebildeter Kinder kommen also noch jeden Tag neue hinzu, wir alle kennen die herzzerreißenden Bilder der missgebildeten vietnamesischen Kinder. US-amerikanische Kriegsverbrechen und die Komplizenschaft deutscher Industrie werden auch 100 Jahre nach den eigentlichen Angriffen noch neue Opfer produzieren und unsägliches Leid über die vietnamesische Zivilbevölkerung bringen.


Milena Rampoldi: Welche Episoden gab es schon in kriegerischen Auseinandersetzungen im Nahen Osten?

Jakob Reimann: Zum ersten dokumentierten Einsatz in der Region kam es 1920, als die britische Mandatsmacht in Mesopotamien den irakischen Aufstand mit Giftgas niederschlug. In den 1960ern kam es im Bürgerkrieg in Nordjemen mehrfach zu Giftgasangriffen durch die Truppen des ägyptischen Präsidenten Nasser.

Die größte Giftgaskampagne der Menschheitsgeschichte gab es in den 1980er Jahren unter Saddams Irak, der in acht langen Jahren Krieg gegen seinen Nachbarn Iran führte und dabei etwa eine Dreiviertelmillion Iraner tötete. Als Nebenkriegsschauplatz führte Saddam den Kampf gegen die Kurden im Nordirak, der 1987/88 in der genozidalen Al-Anfal-Kampagne gipfelte, in dessen Zuge 4.000 kurdische Städte und Dörfer dem Erdboden gleichgemacht wurden und mindestens 100.000 Menschen getötet wurden. Trauriger Höhepunkt war hier der Angriff auf Halabja, dem größten Giftgasangriff auf Zivilisten aller Zeiten, bei dem im März ‘88 bis zu 5.000 Menschen direkt starben. Es ist schwer erträglich, doch wieder waren es in erster Linie deutsche Konzerne – das Who is Who der deutschen Chemie- und Ingenieursbranche –, die Saddam nicht nur die bis dato modernste Giftgasanlage der Welt in die irakische Wüste setzten, sondern auch solche Fabriken zur Produktion von wichtigen Ausgangsstoffen, so dass Saddam nahezu autark Giftgas produzieren konnte.

Ein Foto, das als Sinnbild des Massakers in Halabja um die Welt ging. Ein Mann versuchte, ein kleines Baby vor dem Giftgas zu schützen. Beide hatten keine Chance.

Der zweitgrößte Giftgasangriff auf Zivilisten in der Geschichte ereignete sich im August 2013 im syrischen Ghuta, einem Vorort von Damaskus, bei dem bis zu 1.400 Menschen an Sarin starben. Dieser Angriff ist fundamental wichtig zum Verständnis des Syrienkriegs insgesamt sowie speziell der Ereignisse der letzten Tage. Während westliche Staaten, allen voran Frankreich, Großbritannien, die USA und Deutschland, sowie deren arabische Verbündete und die Türkei, dem Assad-Regime die Täterschaft zuschreiben und dies stets als zentrale Rechtfertigung für ihre Interventionspolitik in Syrien anführen (Obamas berühmte „rote Linie“), gilt diese Verschwörungstheorie mit äußerst hoher Wahrscheinlichkeit als widerlegt. So belegen etwa ein UN-Bericht, eine wissenschaftliche Analyse des renommierten MIT in Cambridge, sowie die investigativen Berichte des Pulitzer-Preisträgers Seymour Hersh, dass keineswegs Assad das Giftgas abgefeuert hat, sondern legen vielmehr nahe, dass von der Türkei und dem Westen unterstützte dschihadistische Kräfte unter falscher Flagge agierten, um so die USA zum Krieg gegen Assad zu animieren. Insbesondere Präsident Obama selbst erzählte in einem Interview mit The Atlantic, dass ihn sein Geheimdienstchef James Clapper warnte, die CIA sei sich keineswegs sicher, Assad hätte das Giftgas eingesetzt, und dass er, Obama, sich vielmehr in eine Falle gedrängt fühle.

Es sollte an dieser Stelle kaum mehr verwundern, dass die deutsche Chemieindustrie auch bei der Produktion von Assads Giftgasarsenal eine zentrale Rolle spielte, indem sie das syrische Regime über mehr als ein Jahrzehnt – bis unmittelbar zum Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs 2011 – im großen Stile mit für die Sarinherstellung benötigten Fluoridverbindungen belieferte.


Milena Rampoldi: Welche Reaktion gebietet das Völkerrecht nach den Giftgasangriffen im syrischen Bürgerkrieg?

Jakob Reimann: Um eine US-Invasion doch noch abzuwenden, erklärte sich Assad nach Ghuta 2013 – unter Mediation der USA und Russlands – bereit, sein gesamtes Chemiewaffenarsenal vernichten zu lassen und trat der Chemiewaffenkonvention bei und die zuständige Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) erklärte im Januar 2016 feierlich die Vernichtung des letzten Kanisters Fluorwasserstoff. Dennoch wies die UN dem Assad-Regime nach, seitdem in zwei Fällen Chlorgas eingesetzt zu haben (was eine reguläre Industriechemikalie ist und daher sehr schwer überwacht werden kann). Auch wurde dem Islamischen Staat der Einsatz von Senfgas 2015 nachgewiesen.

Die Täterschaft des grauenhaften Giftgasanschlags letzte Woche in Chan Schaichun, bei dem 86 Menschen starben, ist – so unbefriedigend das auch sein mag – weiterhin ungeklärt. Zeugenaussagen sprechen dafür, dass es Assads Luftwaffe war, während MIT-Professor Theodore Postol nach Analyse von Geheimdienstberichten behauptet, die Sarin-Granaten wurden unmöglich aus der Luft abgefeuert, sondern vom Boden. Die Trump-Administration beschuldigt unentwegt Assad, argumentiert dabei jedoch lediglich auf (pseudo-)moralischer Ebene, ohne Beweise zu liefern. Aus militärstrategischer Sicht wäre ein Giftgasangriff des syrischen Militärs tatsächlich das Dümmste, was Assad hätte machen können. Denn wegen der unnachgiebigen Bombardierungen der Feinde Assads durch Russland seit September 2015 steht Assad einem militärischen Sieg heute so nah wie in den letzten sechs Jahren nicht. Es war vorherzusehen, dass ein Gasangriff Vergeltung zur Folge hätte.

Vorschnelle Schuldzuweisungen bringen niemandem etwas, sondern eskalieren nur die Lage. Wir müssen die Untersuchungen des OPCW abwarten. Wer auch immer der Täter war, muss zur Rechenschaft gezogen werden. Nicht mit der Blutrache eines Donald Trump, sondern mit den juristischen Möglichkeiten des Völkerrechts, das in vielen Abkommen den Einsatz von Giftgas verbietet. Liebend gerne würde ich Assad auf der Anklagebank in Den Haag sehen, wo er sich für seine Kriegsverbrechen verantworten muss. Doch auch Trump hat es innerhalb weniger Wochen seiner Präsidentschaft geschafft, ein Kriegsverbrecher zu werden. Es gab keine Resolution des UN-Sicherheitsrats und keine Ausübung des Selbstverteidigungsrechts, sein Vergeltungsschlag gegen Assad war damit ohne jeden Zweifel illegal, ein Kriegsverbrechen. Ich hätte mir auch gewünscht, einen Osama bin Laden auf der Anklagebank zu sehen, oder Gaddafi, oder all die drohnentoten Taliban-Führer. Genauso müssen aber auch die Verantwortlichen der Kohl-Regierung – der Kanzler selbst – als Kriegsverbrecher in Den Haag angeklagt werden. Denn sie machten Saddams Giftgas-Genozid an den Kurden erst möglich. Beihilfe zum Völkermord, strafbar nach Art. 3 der UN-Völkermordskonvention.

Wir müssen zu allererst den Mut aufbringen, diese Sachen offen auszusprechen und dürfen uns nicht hinter geheuchelten Doppelstandards verstecken. Ich bin es leid, wie wir den Toten ins Gesicht spucken, indem wir bei Kriegsverbrechen ständig mit zweierlei Maß messen. Bedauernswertes Leid hier, irrelevantes Leid dort. Entweder vertreten wir das Völkerrecht als überpolitische Instanz, dann müssen wir jedes Kriegsverbrechen anprangern und die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen. Oder wir lassen es eben. Aber dann sollten wir auch aufhören, uns ständig selber zu belügen, indem wir so tun, als wäre das Völkerrecht ein irgendwie geartetes Ideal, universell gültig, gar eine moralische Kategorie. Bis jetzt verwenden wir es lediglich höchst selektiv als politische Waffe zur Bekämpfung unseres politischen Feinds.


Milena Rampoldi: Welche direkten Konsequenzen hat Giftgas auf die Zivilbevölkerung?

Jakob Reimann: Um es klar zu sagen, Giftgas ist eine relativ ineffektive Waffe der Kriegsführung. Durch Wind wird es schnell „verdünnt“ und so ineffektiv, du kannst dich mit einer billigen Gasmaske davor schützen, auch bleiben Infrastruktur wie Gebäude und Straßen halbwegs intakt. Für eine möglichst große Zerstörungskraft und den Tod möglichst vieler Menschen sind daher konventionelle Waffen das Mittel der Wahl, nicht zu reden von Atombomben. Es ist falsch und irreführend, Chemiewaffen in der Gruppe der Massenvernichtungswaffen zu führen. Die wahren Massenvernichtungswaffen sind die 850 Millionen Kleinwaffen auf diesem Globus, die Maschinengewehre und Pistolen.

Es ist daher wichtig zu verstehen, dass Giftgasangriffe in erster Linie ein Werkzeug psychologischer Kriegsführung sind. Genau wie bei anderen Terrorstrategien wie Selbstmordattentaten oder Briefbomben ist ihr militärstrategischer Effekt marginal. Ziel ist der Terror in den Köpfen. Nervosität, Angespanntheit, Paranoia, Angst und Schrecken sollen sich dauerhaft in der gesellschaftlichen Psyche breitmachen. So schlussfolgerten drei Wissenschaftler in einem Aufsatz im British Medical Journal, dass die langfristigen sozialen und psychologischen Effekte von Giftgasangriffen gravierender seien, als die akute physische Zerstörung des Angriffs selbst.

Im 1. Weltkrieg sind weit unter 1 Prozent der 17 Millionen Toten durch Giftgas gestorben, dennoch ging er als „Krieg der Chemiker“ in die Geschichte ein – und in die Köpfe der Menschen, vor allem in die Köpfe der Menschen. Zu demoralisierend waren die Geschichten vom qualvollen Todeskampf in den Gräben. Zu heftig waren die Verletzungen der Überlebenden. Zu erbärmlich waren Bilder wie dieses:

Angehörige der britischen 55. Division erblindet von deutschem Tränengas, 10. April 1918, während der Vierten Flandernschlacht. By Thomas Keith Aitken (Second Lieutenant), Wikimedia commons, published under public domain.

Die psychologische Macht des Gases wird am Vergleich zweier Ereignisse der letzten Wochen deutlich. Als Trumps Anti-ISIS-Koalition Ende März im irakischen Mosul an einem Tag mehr als 230 Zivilisten tötete, hielt sich der weltweite Aufschrei gegen diesen Massenmord in Grenzen. Als dann Anfang April im syrischen Chan Schaichun jedoch 86 Menschen im oben erwähnten Giftgasangriff starben, war die Welt außer sich und lechzte nach Vergeltung. Durch Hightech-Raketen in tausend Stücke gefetzt ist der eine Leichenberg kaum mehr als eine News unter vielen, Collateral Damage, einkalkuliert. Elendig verreckt im Gas ist der andere Leichenberg jedoch die Quelle ungebändigter Empörung. Schaum vorm Mund.

Und an vorderster Front der Empörten stand ausgerechnet Donald Trump, der die „wunderschönen Babys“ betrauerte, wie er es formulierte. Der Donald Trump, der kurze Zeit vorher noch versprach, präventiv die unschuldigen Familien von Terroristen hinrichten zu wollen – als Signal, zur Abschreckung. Der Donald Trump, der in den ersten Wochen seiner Präsidentschaft in Syrien, im Jemen und im Irak bereits weit mehr als 1.000 Zivilisten tötete, darunter viele, viele Kinder – ausgerechnet ihm glauben wir, dass er sich auf einmal um getötete Araberkinder schert?

Ja, tun wir. Und der einzige Grund ist das Giftgas und seine psychologische Macht.

Das ist die “Schönheit” der US-Tomahawk – die am 7. April von der USS Ross vom Mittelmeer aus ihren Weg nach Syrien antrat –, von der der demokratische MSNBC-Reporter Brian Williams so sichtlich erregt war. By Petty Officer 3rd Class Robert S. Price, Wikimedia commons, published under public domain.

Und galt Trump in den letzten 12 Monaten unter US-Demokraten als der Satan höchstpersönlich, so standen die zwei bitter verfeindeten US-Politlager nun vereint hinter seinem illegalen Vergeltungsschlag und seinen 59 Tomahawk-Raketen auf Syrien. Ein Kommentator des pro-Hillary-Lagers sprach Trump in Ehrerbietung auf CNN seinen demokratischen Segen aus: An diesem Tag „ist Donald Trump zum Präsident der Vereinigten Staaten geworden. Das war ein großer Moment.“ Ein anderer ergötzte sich in den pro-Hillary MSNBC News fast mit sexueller Erregung an der „Schönheit“ von Trumps Tomahawk-Raketen.

Es bedarf nur 86 vom Gas getöteter Menschen, und die tief gespaltene US-Politlandschaft steht geeint hinter ihrem frischgebackenen Kriegspräsidenten Trump.

Giftgas ist eines der stärksten Tools der Kriegspropaganda überhaupt. Für uns kriegsmüde Außenstehende ist die moralische Erpressung durch diese grauenvollen Bilder der vom Gas Getöteten so wirkungsvoll, wie es Panzer und Raketen schon lange nicht mehr sind. Viel zu sehr haben wir uns an sie gewöhnt, viel zu hoch haben sie unsere Empathieschwelle gepusht. Doch die leblosen Augen der Gastoten – ihr elendes Todesröcheln, in ihren Gesichtern der verzweifelte Todeskampf noch erahnbar – stellen selbst die prinzipientreuesten Pazifisten mit dem Rücken an die Wand. Wer jetzt den Cheerleadern der Vergeltung nicht beispringt, macht sich mitschuldig an der nächsten Barbarei, die nächsten gepeinigten Babyleichen gehen auf seine oder ihre Kappe – das ist die Macht des Gases.


Dieses Interview erschien auch auf JusticeNow! – connect critical journalism!

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