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Buchbesprechung: Der Hass der Demokratie

Zu Beginn des 3. Jahrtausends steht die Demokratie im Kreuzfeuer, zum einen durch jene, die meinen, dass die Demokratie (noch) nicht verwirklicht sei, und jene, denen die Demokratie bereits viel zu weit geht – als eine Herrschaft des Pöbels oder gierigen Komsumenten.

Um Letztere soll es zunächst gehen, Rancière setzt sich mit ihrer Kritik auseinander. Diese beklagen, dass es im Namen der Demokratie erlaubt ist, wenn junge religiöse Frauen ihren Schleier tragen und gar soweit gehen, sich zu weigern, ihn abzulegen. Dieser Umstand, als auch die Realityshows, Homosexuellen-Ehe und künstliche Fortpflanzung fänden ihre Ursache in der Demokratie, die als „die Herrschaft der unbegrenzten individuellen Begierden in der modernen Massengesellschaft“ wahrgenommen wird (S. 7). Sie beklagen nicht die institutionellen Regeln, Wahlen, Parteien usw., sondern den Verfall der Sitten, die Zivilisationskrise – ihre Symbole dür die demokratische Gesellschaft.

Hingegen finden sie genau diese Demokratie dann gut, wenn sie als Vertreter westlicher Werte – wie etwa dem Schutz der Menschenrechte oder der Besitzverhältnisse – in andere Staaten einfällt.

„Es [das neue antidemokratische Gefühl] sagt uns, die demokratische Regierung sei schlecht, wenn sie sich durch die demokratische Gesellschaft korrumpieren ließe, derzufolge alle gleich sind und die Unterschiede respektiert werden sollen. Dagegen sei die demokratische Regierung gut, wenn sie die erschlafften Individuen der demokratischen Gesellschaft durch die Energie eines Krieges aufrüttelt, der die Werte der Kulturen, oder genauer: die Werte des Kampfes der Kulturen, verteidigen soll.“ (S.9f.)

Von der siegreichen zur kriminellen Demokratie

Wann ist die Demokratie also gut? Wann ist ihr Sieg aus Sicht ihrer eigenen Kritik lobenswert?
Nur „wenn man sie einem realistischen Standpunkt aus zu betrachten weiß, so dass man ihre praktischen Vorzüge von der Utopie der Regierung des Volkes durch sich selbst trennen kann.“ (S. 11) Jedoch wird die gleiche demokratische Bewegung oder die exportierte demokratische Befreiung von einem Diktator oder Regime kriminell, wenn Demokratie „die Unordnung der nach Befriedigung durstenden Leidenschaften ist“ (S.11f.).

Demokratie scheint aus den Augen ihrer Kritiker daher nur solange erstrebenswert, wie man sie nicht idealisiert oder sie zuweit treibt, indem die Ordnung – die Besitzverhältnisse, die legitime Herrschaft der Besitzenden – angegriffen wird.

Diese Kritiker der Demokratie werden nicht müde, weitere Aspekte der Demokratie als grundsätzlich schlecht auszumachen, denn „[e]ntweder bezeichnet das demokratische Leben eine breite Beteiligung des Volkes an der Diskussion öffentlicher Angelegenheiten […]. Oder es meinte eine Form des gesellschaftlichen Lebens, die ihre Energien auf die individuellen Befriedigungen richtete“ (S.14), womit Demokratie zur „Herrschaft des Exzesses“ wird und somit letzlich zum Ruin, den selbst Verfassungsrechtler prognostizieren.

Auch der hinkende Vergleich zwischen Totalitarismus und Demokratie wird bedient:

„… was man einst als staatliches Prinzip der geschlossenen Totalität kritisierte, [wird] nun als soziales Prinzip der Grenzenlosigkeit angeklagt und Demokratie genannt.“ (S.18)

Jener Vergleich geht bei Furet sogar so weit, zu sagen, Totalitarismus hat seine Wurzeln in der demokratischen Bewegung. „Die Herrschaft des stalinistischen Terrors war in der revolutionären Schreckensherrschaft [der demokratischen französischen Revolution mehr als hundert Jahre zuvor] bereits angelegt; und diese war ihrerseits keine Entgleisung der Revolution sondern ihrem Projekt gleich wesentlich – sie war eine dem Wesen der demokratischen Revolution selbst inhärente Notwendigkeit.“

Jedoch ist diese Kritik nicht an den Kollektivismus addressiert, den man für gewöhnlich in Revolutionen oder totalitären Regimen angreift, sondern an den Individualismus. Die Befreiung des Individuums aus Knechtschaft, Lehnhoheit, Feudalismus, Aristokratie gilt die Kritik der Anhänger des neuen antidemokratischen Gefühls, denn die französische Revolution seie nur unnötige Dramaturgie und Blutdurst gewesen, während die institutionellen Regeln und die Postenvergabe in Institutionen bereits vor jener Dramaturgie erfolgt. Somit sieht Furet nicht das Scheitern der modernen Demokratie – die fehlende Eroberung des Staatapparates – sondern nur ihren – in seinen Worten – Erfolg: den Terror, das Blutvergießen; das aus objektiver Perspektive abzulehnen sei, wie der Kampft für Demokratie als solche! (vg. S. 20f.)

Dieser individualistische Terror und die Demokratie sind zwei Seiten der selben Medaille: die der egoistischen Individuen der bürgerlichen Gesellschaft.

„Die Frage ist nun, wer diese egoistischen Individuen sind. Marx verstand darunter die Besitzer der Produktionsmittel, d.h. die herrschende Klasse […]. Die zeitgenössische gelehrte Meinung hingegen sieht die Dinge anders. Und tatsächlich genügt es, eine Reihe von kleinsten Verschiebungen vorzunehmen, um den egoistischen Individuen ein ganz anderes Gesicht zu geben. Ersetzen wir zunächst, das wird man uns umstandslos zugestehen, „egoistische Individuen“ durch „gierige Verbraucher“. Setzen wir dann diese gierigen Verbraucher mit einer historischen sozialen Spezies gleich, dem „demokratischen Menschen“. Un erinnern wir uns zuletzt daran, dass die Demokratie das Regime der Gleichheit ist, so ist es nicht weit zu der Schlussfolgerung, dass die egoistischen Individuen die demokratischen Menschen sind. Letztlich lässt sich also schlussfolgern, dass die Ausweitung der Marktbeziehungen […] nichts anderes ist als die Verwirklichung des fiebrigen Verlangens nach Gleichheit, das die demokratischen Individuen beherrscht und das vom Staat verkörperte Streben nach Allgemeinwohl zerrüttet.“ (S.22f.)

Somit spielt die Gleichsetzung des demokratischen Menschen mit dem Verbraucher (und somit auch dem Arbeitnehmer, den Besitzlosen) den Feinden der Demokratie und den Besitzenden in die Hände. Sie können nun ihre größte Wut (Antikapitalismus von Rechts und antidemokratische Gefühle) gegen „die Repräsentanten der Konsumleidenschaft“ richten, „deren Konsumfähigkeit am eingeschränktesten ist.“ (S.34).

„Der vorherrschende interlektuelle Diskurs kehrt damit zum Denken der Zensus- und Wissenseliten des 19. Jahrhunderts zurück: Individualität ist etwas Gutes, für die Eliten, doch sie wird zu einem Desaster der Zivilisation, sobald sie für alle zugänglich ist.“ (S.34)

Die Kritik des demokratischen Exzesses richtet sich also gegen den Individualismus, einer Menschheit von Individuen, die sich selbst hervorbringt, sich selbst verwirklicht, ohne strukturelle Zwänge und Bande mit den Vorfahren. Diese „kindische Menschheit“ (S.34) kann nur regiert werden, „indem er [der ‚tote Gott-Mensch‘, Metapher für: Mensch, der herrscht, ohne von Natur aus, aufgrund der tradierten Herrschaft seiner Vorfahren oder Vorgänger, dafür vorgesehen zu sein] zum Garanten der ‚kleinen Freuden‘ (petites jouissances) wird, die unsere große Hilflosigkeit – unsere Hilflosigkeit als Waisen [ohne göttlichen Vater, d.h. tradierte Herrschaft] – zu Geld machen. Denn als solche sind wir dazu verdammt, im Reich der Leere umherzuirren, das gleichermaßen die Herrschaft der Demokratie, des Individuums oder des Konsums bedeutet.“ (S.37)

Die Politik oder der verlorene Hirte

Wie bereits erwähnt, gibt es vermeintliche natürliche Rechtsansprüche auf Herrschaft – wir nennen sie fortan entsprechend Rancières Ausführungen Titel – und diese finden sich schon in Platons Werken (Nomoi, Paideia).

Vier der Sieben Titel gehen auf die Geburt zurück: so herrschen die Eltern über ihre Kinder, die Alten über die Jungen, die Herren über die Sklaven oder die Hochgeborenen über die Nichtswürdigen. Neben der Natürlichkeit der Geburt gibt es zwei weitere natürliche Titel: die Herrschaft der Starken über die Schwachen und als die Stärke des Geistes, des Wissens, die Herrschaft der Gelehrten über die Unwissenden (vgl. S. 44).

„Die Politk beginnt tatsächlich, wenn das Regierungsprinzip mit dem Prinzip der Abstammung [erste vier Titel] bricht und sich trotzdem weiterhin auf die Natur beruft, d.h. wenn es eine Natur anruft, die etwas anderes ist als die einfache Beziehung zum Stammvater oder zu Gottvater.
Dort beginnt Politik. Doch begegnet sie auf diesem Weg, der ihre eigene vom ausschließlichen Geburtsrecht trennen will, auch einen seltsamen Gegenstand, einer siebten Legitimierungsform für die Verteilung der niederen und höheren Plätze, einem Titel, der keiner ist und den wir trotzdem, so der Athener, als den gerechtesten betrachten: es ist der Autoritätstitel ‚von den Göttern geliebt‘ zu werden – die Auswahl des Zufallsgottes, das Lossystem als demokratische Prozedur, durch die ein Volk von Gleichen über die Verteilung der Plätze entscheidet.
Darin liegt der Skandal [der Demokratie]: ein Skandal für die ‚besseren‘ Menschen, die nicht zulassen können, dass ihre Geburt, ihr Alter oder ihr Wissen sich dem Gesetz des Zufalls beugen sollen.“ (S. 45)

Seit Platon ist nun einige Zeit vergangen, so dass wie ohne schlechtes Gewissen ‚ihr Geldbeutel‘ oder ‚ihr Bankkonto‘ in diese Aufreihung hätten aufnehmen können. Dieser siebente Titel, dem des Lossystems, der Verteilung unter Gleichen, der Demokratie, ist das Fehlen jeden (natürlichen) Titels.

„Die demokratische Maßlosigkeit hat nichts mit Konsumwahnsinn zu tun. Sie ist einfach nur der Verlust jenes Maßes, nach dem die Natur dem gesellschaftlichen Artefakt ihr Gesetz gegeben hat, indem sie die Autoritätsbeziehungen innerhalb des sozialen Körpers strukturierte [– der Verlust einer vermeintlichen natürlichen, vorgesellschaftlichen, Ordnung, die Lossagung von Abstammung, die Abkehr vom Hirten].“ (S. 46)

„Demokratie bedeutet also zunächst Folgendes: eine anarchische ‚Regierung‘, die auf nichts anderem gründet als auf dem Fehlen jedes Herrschaftsanspruchs.“ (S. 46)

Der Erfolg der Wahlen und gar des Losverfahrens bei republikanischen wie aritokratischen Regimen, lässt sich aus der Abwehr eines weit verachteteres Übel ausmachen, das leider heute viel zu selten als Gefahr wahrgenommen wird – die Regierung jener, die „mit List nach der Machtergreifung […] trachten“ (S. 47).

Eine Kritik der Demokratie, die darauf zielt, zu kritisieren, dass Regierungsunwillige und für die Regierungsgeschäfte nicht Ausgebildete an der Regierung beteiligt sind, verlangt nicht anderes als Macht der Machthungrigen oder die Regierung derjenigen, die sich durch einen anderen Titel auszeichnen. In Jahrhunderten der Verfassungstheorie von Platon bis zur US-Verfassung und der französischen Revolution kam keiner(!) auf „die Idee, dass das Begehren der Macht der erste und wichtigste Titel [sei], um zu bestimmen, wer der Macht überhaupt würdig ist.“ (S. 47)

Platon ließ daher dieses Verfahren, das des Loses, auf seiner Liste, um berechtigten Zweifel an der Legitimität der anderen (undemokratischen) Herrschaftsansprüche zu wecken.

„Die Politik beginnt tatsächlich dort, wo man die Geburt infrage stellt, indem die Macht der Wohlgeborenen, die sich auf irgendeinen Gründungsgott eines Stammes beruft, als das ausgestellt wird, was sie ist – als die Macht der Besitzenden.
[…]
In einem Punkt hat der Kritiker der ‚kriminellen Tendenzen‘ der Demokratie also recht: Die Demokratie stellt einen Bruch mit der Ordnung der Abstammung dar.
[…]

Die Geschichte kennt vor allem zwei Machtansprüche, mit denen sich die Herrschaft über die Menschen legitimieren lässt: Der eine beruht auf der menschlichen oder göttlichen Abstammung, d.h. auf der Überlegenheit der Geburt; der andere beruht auf der Organisation der produzierenden und reproduzierenden Tätigkeiten der Gesellschaft, d.h. auf der Macht des Reichtums. Die Gesellschaften werden gewöhnlich von einer Kombination dieser beiden Mächte regiert, die in unterschiedlichem Maße von Kraft und Wissen unterstützt werden.“ (S. 49 ff.)

Doch auch letztere Herrschaft wird (zumindest in der Moderne) als legitim erachtet, wenn sie dem anarchische Titel, des des Zufalls oder der (wie auch immer beschränkten) Wahl.

Eine Abschaffung der demokratischen Wahl oder des Losverfahrens hätte zur Folge alle politischen Herrschaften, die sich per defintionem nicht von Geburt her regeln, abzuschaffen und zu einer Herrschaft der Stämme oder Blutes zurückzukehren; in dieser würden dann alle Machtressourcen in einer handvoll Familien zu finden zu sein. Jedoch würde diese keinelei Legitimität erfahren: Nichtbefolgung, Unzuständigkeiten, Inkompetenz wären die Folge und wohl eine blutiger anarchischer Bürgerkrieg.

Wie die Zitate bereits zeigten, beruht Demokratie als „Verteilung unter Gleichen“ auf Gleichheit. Gleichheit ist den Menschen durch die Natur gegeben, sie kann nur durch eine Ideologie oder Herrschaft juridisch eingeschränkt werden.

„Gleichheit ist keine Fiktion. Ganz im Gegenteil, erfährt sie jeder Höhergestellte als die banalste aller Realitäten. Es gibt keinen Herren der nicht riskiert, dass sein Sklave ihm wegläuft, während er schläft, es gibt keinen Menschen, der nichtfähig wäre, einen anderen Menschen [egal welcher hoher Stellung, welchen Previlegs] zu töten […].“ (S. 52)

Nicht zuletzt muss die Gleichheit der Kommunikation, des Verstehens der gemeinsamen, gleichen Sprache als rudimentäres Wissen zum Erschließen der Welt und Erlangung der Gleichheit. Ohne sie gebe es keine Befehle, kein Gehorsam und somit keine Herrschaft.

Diese egalitäre Kollektivität wird von den Kritikern der Demokratie genauso verabscheut, wie der demokratische Individualismus, denn beide sind unweigerlich miteinander verknüpft. Sie lehnen aber nicht Individualismus als solchen ab, sondern nur wenn er auch dem Pöbel, dem Plebs, dem einfachen Volk zukommt. Sie lehnen auch nicht Kollektivität als solche ab, sondern wünschen „die eindeutig hierarchisierte Kollektivität“ (S. 73), einen Korporatismus aus diversen Eliten, die ihre Herrschaft über die da unten absichert.

Demokratie, Republik, Repräsentation

Wenden wir uns nun vermehrt jenen eingangs erwähnten Stimmen zu, die meinen, dass die Demokratie (noch) nicht verwirklicht sei. Die Frage, der man sich hier (vereinfachend) zuwenden muss, ist der Gegensatz zwischen direkter und repräsentativer Demokratie.

„Die direkte Demokratie, so sagt man, war gut für die altgriechischen Stadtstaaten oder die Schweizer Kantone im Mittelalter, in denen die Gruppe der freien Männer auf einen Marktplatz passte[…]. [Mit dem Aufkommen größerer Gesellschaften und politischer Einheiten] musste nur die Zahl der berechtigten Wähler gering [ge]halten [werden], was man ganz einfach dadurch erreichte, dass man das Recht, die Repräsentation zu wählen, den Besten der Nation vorbehielt, d.h. denen, die einen Zensus von 300 Francs bezahlen konnten.“ (S. 58)

Direkte Demokratie, adé?

„[N]och 1963 verortete Hannah Arendt die wahre Macht des Volkes in der revolutionären Form der Räte, die einzig wirksame politische Elite konstruieren konnte, nämlich die vor Ort selbst gewählte Elite derjenigen, deren Glück darin besteht, sich um die öffentlichen Angelegenheiten zu bemühen.“ (S. 58)

Damit also die Demokratie nicht zum Zwang wird, ist es zwar jeden offen, sich einzubringen, er kann dies aber auch sein lassen. Das gegenwärtige Fehlen direkter Demokratie ist also nicht quantitativen Merkmalen, wie Bevölkerungsanzahl, geschuldet.

„[Das repräsentative System] ist […] eine oligarchische Form vollen Rechts, eine Repräsentation von Minderheiten, die [durch das herrschende Recht] dazu berechtigt sind, sich um die Angelegenheit der Gemeinschaft zu kümmern. […] Die Schüler Rousseaus lassen ihrerseits die Repräsentation nur auf Kosten der wahren Bedeutung des Wortes gelten, d.h. auf Kosten [,des Akzeptierens,] der Repräsentation der Privatinteressen [der Repräsentanten].“ (S. 58 f.)

Wir sehen also, dass was wir als inhärent demokratisch im Alltagssinne verstehen, ist an normativen Maßstäben gemessen nicht per se demokratisch. Dies gilt auch für das demokratische allgemeine Wahlrecht: dieses wurde von der demokratischen Bewegung (unter anderem) in England erkämpft, weil es sich hierbei nicht um einen steten natürlichen Begleiter vermeintlicher Demokratie handelt. Erstmal errungen unterliegt sie dann jedoch den, zum Teil erfolgreichen, Versuchen der Uminterpretation und des Missbrauchs durch die Oligarchie.

Durch die Suche nach Legitimation wird ein öffentlicher Raum geschaffen, in dem die Bürger und Beherrschten und die Regierung darum ringen, welche Instanzen das gemeinsam (politisch) zu Verwaltende – das Gemeinsame der Gesellschaft – ist. Somit ist Demokratisierung nicht die Privatisierung jener Dinge, worüber (dann individuelle) Entscheidungen zu fällen sind, sondern die Ausweitung des Öffentlichen. „Im Gegenteil: Es geht darum, gegen die Aufteilung von Öffentlichem und Privatem zu kämpfen, die die doppelte Herrschaft der Oligarchie im Staat und in der Gesellschaft gewährleistet.“ (S. 61)

Rancière zeichnet nun zwei Formen der Erweiterung des Öffentlichen in historischen Kontexten nach, die jedoch auch für zukünftige Vergesellschaftlichungen der Herrschaft/Verwaltung von enormer Brisanz sein können.

„[Z]um einen den Kampf um die Anerkennung derer, die das staatliche Gesetz ins private Leben der minderen Wesen verwiesen hat, als Gleiche und politische Subjekte; und sodann den Kampf um die Anerkennung bestimmter Raumtypen [des Öffentlichen] und Beziehungen [zwischen politischen Subjekten], die der Verschwiegenheit der Macht des Reichtums überlassen waren, als öffentliche.“ (S. 61)

Ganz konkret kann man hier von Wahlrechten, Frauenrechten, Asyl(anten)rechten, Tarifrechten, Arbeitnehmerrechten, sozialen usw. Rechten sprechen. So war „[d]er Streit um die Löhne […] zuerst ein Streit mit dem Ziel, die Lohnbeziehung zu entprivatisieren und so zu zeigen, […] dass es sich hierbei um eine öffentliche Angelegenheit handelt […] und folglich Teil […] der legislativen Regelung ist.“ (S. 62). Somit wird das Private zu dem, das keiner demokratischen, gesellschaftlichen Kontrolle unterliegt, sondern zum „Monopol derer, die die Märkte bestimmen“ (S. 63).

Die Erringung wahrer demokratischer Verhältnisse beginnt oft mit einer Ermächtigung, die auf der Erkenntnis fußt, dass gerade weil gewissen Teilen der Gesellschaft gewisse Rechte vorenthalten werden, obwohl sie ihnen als Teil der Gesellschaft zusteht. So traten die bürgerrechtslosen Frauen aus der ihr zugeordneten partikularen Gesellschaftsphäre hervor, als sie in ihrem Recht das Schafott zu besteigen erkannten, dass sie alle Strafen ereilen kann, ihnen somit auch alle Rechte zustehen müssen ( Olympe de Gouges). Eben eine solche Ermächtigung war es, als „an einem Dezembertag im Jahr 1955 in Montgomery (Alabama)“ (S. 66 f.) eine junge schwarze Frau einen ihr gesetzlich verwehrten Sitzplatz für sich beanspruchte. Eine Bewegung wurde befördert, die die formale Gleichstellung aller Rassen erreichte.

Die Gründe für einen Hass

Nachdem wir uns nun die beiden Kritiken ‚Die Demokratie ist bereits zu real.‘ und ‚Das ist keine echte Demokratie.‘ angeschaut haben, wenden wir uns der Frage der realen Verhältnisse zu: Inwiefern ist sie den Kritiken angemessen? Welche Kritik hat die Realität als Orientierungspunkt anstatt eines wie immer gearteten Wahnes?

„Im strikten Sinne ist die Demokratie keine Staatsform. [… Sie ist] die notwendigerweise egalitäre und genauso notwendigerweise verdrängte Grundlage des oligarchischen Staats [… und sie ist] die öffentliche Aktivität, die der Tendenz eines jeden Staates, die gemeinsame Sphäre zu beanspruchen und zu entpolitisieren, entgegenwirkt. Jeder Staat ist oligarchisch. […] Doch die Oligarchie kann der Demokratie mehr oder weniger Platz einräumen, sie ist von ihrer Aktivität mehr oder weniger begeistert. Damit ist gemeint, dass die Verfassungsformen und die Praxis der oligarchischen Regierungen als mehr oder weniger demokratisch bezeichnet werden kann.“ (S. 77)

Jedoch ist den Ansprüchen Platons an eine Demokratie – als eine Regierung durch das Los, durch jene, die nicht nach der Macht streben – eine Praxis gewischen, die sich durch einen Wechsel der Posten (Putin & Medwedew, aber auch Ministerpräsidenten in Deutschland, die ins Bundeskabinett wechseln), der Vernetzung von Ministerien und Unternehmen (Gazprom, E.on, RWE, Zeitarbeitsfirmen), der Hinterziehung öffentlicher Gelder seitens der Parteien und private Medienmogule in Ämtern (Berlusconi) auszeichnet (vgl. S. 78).

„Kurz gesagt, handelt es sich um die Aneignung der öffentlichen Sache durch eine solide Allianz von staatlicher und wirtschaftlicher Oligarchie.“ (S. 78)

Es ist also nicht der demokratischen Menschen mit seinem Konsum, der das egoistische Individuum der bürgerlichen Gesellschaft, unter dem die Demokratie leidet, ist, sondern es derjenige, der sich durch die Macht des Geldes bereits einen Titel erworben hat und gierig nach der Macht auch unter demokratischen Vorzeichen trachtet: der Oligarch.

„Wir leben nicht in Demokratien [Hervorhebung im Original]. […] Wir leben in oligarchischen Rechtsstaaten, d.h. in Staaten, in denen die Macht der Oligarchen durch die doppelte Anerkennung der Volkssouveränität und der individuellen Freiheiten begrenzt ist.“ (S. 79)

Doch die Oligarchie schafft es durch ihr Machtmittel diese individuellen Freiheit direkt oder strukturell einzuschränken. Die Pressefreiheit krankt an den notwendigen finanziellen Mitteln, sein Presseerzeugnis zu verbreiten – es brauch keiner Gefängnisse, um sie einzuschränken. Hier lassen sich weitere Beispiele nennen, auch etwa, dass sich das sich alles auf der Personalspeisekarte gleicht: die Biographien, die politischen Vorstellungen, die Praxis.

Nur die Selbstermächtigung, das Erkämpfen und die Ausübung demokratischer Rechte verwandelt letztere aus einen Papiertiger, dessen Streifen die interpretativen Schatten der Oligarchie sind, in politische Wirklichkeit. Die Interlektuellen erzeugen zudem ein kollektives Gefühl der Dummheit, die Abstimmung der Füße wird an weisen Ratschlägen gemessen, nicht an den Grad der Diskussion innerhalb der Bevölkerung. Dummheit und Desinteresse sind nicht die Ursache des Problem, sondern die Wirkung: Leidenschaftslosigkeit.

„Die Folge(!) ist, dass die einzelnen Individuen dieser Masse entweder das Interesse am Gemeinwohl verlieren und nicht zur Wahl gehen oder sie verstehen die Wahlen einzig aus der Perspektive ihrer Verbraucherinteressen und -launen. […] Hervorzuheben [gegenüber dem steigenden Anteil an Nichtwählern] wäre vielmehr das bewundernswerte Durchhaltevermögen der Bürger, die sich weiterhin zahlreich zur Stimmabgabe mobilisieren […]. Und die demokratische Leidenschaft, die den ‚Regierungskandidaten‘ so sehr schadet, ist nicht die Laune von Verbrauchern, sondern einfach der Wunsch, dass Politik etwas anderes bedeuten möge als die Wahl zwischen austauschbaren Oligarchen.“ (S. 80 f.)

Politische Praxis hat immer die Folge, dass das Volk geteilt wird; in eines, das alle verfassungsgemäßen Rechte erfährt und von der Regierung nicht benachteiligt werden, und eines, das ins Hintertreffen gerät und dem Rechte vorenthalten werden. Diese Spaltung ist im Parlament der Repräsentantendemokratie nicht sichtbar: die stärkste Minderheit hat die Macht und zusammen mit der parlamentarischen Opposition bildet sie eine Mehrheit, die am Status Quo nichts ändert – nichts ändern will – und dies als alternativlos darstellt. An diesem allzu professionellen Theater haben früher Arbeiterparteien die Bühne zur Lügenstrafung genutzt, unterstützt durch extra- oder antiparlamentarischer Opposition (vgl. S. 81 f.).

Nach dem letzten großen Beben in Westeuropa durch die 68er-Bewegung hat sich jedoch ein oligarchischer Konsens durchgesetzt, deren Wirklichkeiten – ohne Handlungsoptionen oder Alternativen – heißen Wirtschaft und Wachstum um jeden Preis. „[I]n anderen Worten, unbegrenzte Macht des Reichtums.“ (S. 82)

Alle Herrschaftstitel scheinen vereint und zugleich inexistent, die Regierung legitim, keine Opposition, die sich ihr in den Weg stellt. Wäre da nicht Populismus. Populismus ist in diesem Sinne, eine gespaltene Bevölkerung zu beschwören; Populismus von rechts der ein Prinzip der Abstammung auf Blut oder Religion propagiert; von links im Eintreten für Klasseninteressen.

Teile des Populismus werden gerne aufgegriffen, so etwa um die sozialen Sicherungssysteme zu zerschlagen, eine letzte Bastion – öffentlicher Raum – von der demokratischen und anderen Bewegungen erkämpft. Oder wenn es um die Kriminalisierung und Pauschalisierung von den (selbstverständlich durchweg) fundamentalistischen, extremistischen, islamistischen, … [traurige Aneinanderreihung von negativen Adjektiven] Asylanten.

Populismus wird aber gerade dann von den Herrschenden genutzt, wenn er nicht mit den Absichten von Wissenseliten und Oligarchen übereinstimmt, dann wird er zur Gefahr, zu Nichtwissen. Dieser Gedanke und dieses Verständnis von ‚Populismus‘ lassen uns erkennen, was der große „Wunsch der Oligarchie“ ist: „ohne Volk regieren, d.h. ohne die Teilung des Volks regieren[, die ihr legitime Herrschaft würdig dem Zweifel überlässt], ohne Politik regieren.“ (S. 85)

So ist auch das schaffen überstaatlicher Institutionen zu verstehen: welches Volk schafft deren Legitimität und welchem ist sie Rechenschaft schuldig? Sie ist lediglich die wechselseitige Anerkennung der Oligarchen. Es sind Nicht-Orte – keine Öffentlichkeit. Hierunter fällt auch die ‚Europäische Verfassung‘.

„Eine der Parteien, die für(!) die Verfassung waren, glaubte, den richtigen Slogan gefunden zu haben: ‚Der Liberalismus braucht keine Verfassung.‘ (sic!) Zu ihrem eigenen Unglück hat sie damit die Wahrheit gesagt: […] der Kapitalismus braucht viel weniger. […] Für den Kapitalismus reicht es hin, dass der Wettbewerb funktionieren kann. [… Die] staatlichen Oligarchien [verfolgen die] Absicht, zwischenstaatliche Räume zu schaffen, die von den Zwängen der nationalen Legitimität und Volkslegitimität befreit sind.“ (S. 86 f.)

Das Scheitern der bereits erwähnten 68er-Bewegung lag nicht in ihrem Kampf für demokratische Erneuerung, sexuelle Befreiung usw., sondern dass „diese politische Bewegung […] auf einen […] privaten Interessenkonflikt beschränkt [blieb] und tatsächlich […] Verteidigung der Belange privater Gruppen [immer in] abseitigeren Kämpfen enden.“ (S. 89) Eine wahre Demokratie kann jedoch nur dann erreicht werden, wenn die kleinen Kämpfe und Bewegungen kombiniert werden, „ihre Aktionen konvergieren“, um „einen demokratischen Raum zu schaffen“ (S. 89). Nur so kann der Macht der Oligarchien etwas entgegengesetzt werden, nicht zuletzt unter der Anwendung der uns bereits zur Verfügung stehenden Mittel, die unter anderen Strukturen demokratisch genannt werden könnten, und der Verteidigung uns zugesicherter demokratischer Rechte und ihrer Erstreitung für weitere Gruppen am Rande unserer Gesellschaft, sowie neuer.

Das Buch kann hier bestellt werden. Ein Gastbeitrag von Patrick Kahle

Jacques Rancière (* 1940 in Algier) ist ein französischer Philosoph, der vor allem für seine Arbeiten zur politischen Philosophie und zur Ästhetik bekannt ist.

Wie auch Michel Foucault, Jacques Derrida und Bernard-Henri Lévy studierte Rancière in Paris bei Louis Althusser und war 1965 an den Arbeiten zu Lire le Capital (Das Kapital lesen) beteiligt. Über die Deutung der Studentenunruhen vom Mai 1968 jedoch kam es zum Streit mit dem Lehrer. Während Althusser eine abwartende Haltung einnahm, wurde Rancière Maoist. Seine frühen Werke (La Nuit de prolétaires, Le Philosophe et ses pauvres) thematisierten denn auch die Rolle des Intellektuellen in der Gesellschaft aus einer linksradikalen Perspektive.

La Mésentente (1995), der bis heute wohl einflussreichste Text Rancières, stellt den Versuch dar, Politik als eine Kette von Subjektivierungen zu denken, als Praxis des Streits, die ihren Anfang bereits in der griechischen Polis nimmt. Der Kampf zwischen Arm und Reich, zwischen Mächtigen und von der Macht Ausgeschlossenen ist demnach nicht ein Problem, welches es qua Politik zu lösen gilt, sondern Politik selbst. Indem der gesellschaftliche Anteil der Anteillosen („la part des sans-part“) sich seiner Position bewusst wird und für seine Rechte eintritt, werden soziale Strukturen revidiert. Dies bedeutet u.a. auch eine Absage an den vordergründigen Konsens einer medialisierten Politik.

Wichtig ist auch der Begriff der Polizei, wie Rancière ihn definiert, nämlich als direkten Gegensatz zur Politik, als Festschreibung der Ungleichheit in der Verteilung der gesellschaftlichen Anteile: Dieser legt die Beziehungen der Subjekte zueinander fest, leugnet die Existenz der Anteillosen, die Existenz eines Unmessbaren. Politischer Streit ist der Bruch mit einer solchen Ordnung.

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