Spanien und der Aufbruch ins Ungewisse

Wie auch immer man das Wahlergebnis vom vergangenen Sonntag auslegen möchte, eines scheint sicher: Spanien sieht sich einer neuen Ära gegenüber, die das Land in seiner nunmehr knapp 40-jährigen demokratischen Geschichte noch nicht erfahren hatte. Seit dem Ende des Bürgerkriegs war das iberische Land entweder durch die Faschisten Francos in einem Ein-Parteien-Staat organisiert, später dann, ab 1975 in der neu errichteten Monarchie mit parlamentarischen Zügen dem Dualismus zwischen rechtskonservativer Partido Popular (PP) und sozialdemokratischer Arbeiterpartei (PSOE) ausgesetzt.

Nun, im Jahre 2015 besteht das neue Parlament in Madrid aus hauptsächlich vier verschiedenen Parteien: die etablierten PP und PSOE, der linken Podemos und der bürgerlich-liberalen Ciudadanos-Partei. Die rechtskonservative Regierungspartei PP unter dem amtierenden Ministerpräsidenten Mariano Rajoy wird stärkste Kraft mit 123 von insgesamt 350 Parlamentsabgeordneten. Dennoch wäre die Behauptung, die PP sei der Sieger des Wahlabends weit von der Realität entfernt. Die PP verlor 16 Prozentpunkte (45 zu 29%) und damit ihre absolute Mehrheit. Möchte Rajoys PP wieder die Regierungsbank anführen, muss sie sich zum ersten Mal in Spaniens jüngerer Geschichte einen Koalitionspartner suchen. Bei der aktuellen Gemengelage in Spaniens politischer Arena wird dies ein schwieriges Unterfangen, haben doch alle anderen Parteien eine Kooperation bereits vor der Wahl ausgeschlossen.

Die sozialdemokratische PSOE unter Spitzenkandidat Pedro Sánchez muss das schlechteste Wahlergebnis in seiner Geschichte (seit dem Übergang in die Demokratie) verkraften. 90 Abgeordnete wird die PSOE stellen, hat somit selbst keine eigene Machtperspektive, sollte sie sich nicht zum Juniorpartner der PP machen, ähnlich wie die SPD in Deutschland, oder den Mut aufbringen, eine buntes linksgerichtetes Bündnis zu schmieden. Möglich wäre dies zusammen mit dem Neueinsteiger im politischen Spanien, der linken Podemos von Pablo Iglesias, einem medienaffinen Politikwissenschaftler von der Universidad Complutense in Madrid. Dieser hat Spaniens starres Parteiensystem in den Grundfesten erschüttert und mit knapp 21% (69 Abgeordnete) – aus dem Stand wohlgemerkt – für die bislang größte elektorale Sensation gesorgt.

Eine weitere Anti-Establishment-Partei war die wirtschaftsliberale Ciudadanos, geführt vom katalanischen Anwalt Albert Rivera, der mit knapp 14% (40 Sitze) zwar den Sprung ins Parlament geschafft hat, dennoch hinter den Erwartungen mancher zurückgeblieben ist. Aus der sogenannten bürgerlichen, eher wirtschaftsfreundlichen Mitte schöpfte Ciudadanos sicherlich einige der PP-Stammwähler ab, für den großen Wurf reichte es aber nicht und Spitzenkandidat Rivera, der sich schon vor der Wahl vehement gegen eine Beteiligung seiner Partei in einer Koalition unter der Führung von Ministerpräsident Rajoy ausgesprochen hat, visiert jetzt nach eigenen Aussagen die Rolle einer Oppositionspartei an.

Der Großteil aller Wahlbeobachter im In- und Ausland sprechen von einer Zäsur, die Spanien in eine politische Ungewissheit führt, weiß doch keiner, ob Rajoy nach Erteilung eines Regierungsauftrags von König Felipe VI Koalitionsverhandlungen zu einem Ergebnis führen kann. Ciudadanos lehnen ihre Beteiligung ab, vor allem wenn Rajoy an der Spitze der Regierung steht. Ob dies immer noch gilt, wenn Rajoy auf seinen Posten verzichtet und, zum Beispiel, seine jüngere Stellvertreterin Sáenz de Santamaría einsetzt, steht noch in den Sternen.

So bliebe Rajoy nur noch eine mögliche Konstellation und die hieße „Große Koalition“ mit dem alten Rivalen PSOE. Angesichts der harten persönlichen Auseinandersetzung zwischen PP und Sánchez traditionsreicher PSOE im Wahlkampf, kann sich Spanien eine solche Zusammenarbeit zumindest noch nicht ganz vorstellen, abgeschrieben ist ein solches Projekt aber keinesfalls, könnte man bei der herrschenden Machtelite nämlich eine andere, unpopuläre Option verhindern: Ein Linksbündnis unter der sozialistischen PSOE, wobei „sozialistisch“ hier mit Vorsicht zu genießen ist, schaut man auf die Entscheidungen und Maßnahmen die Spaniens traditionsreiche Partei in den letzten Jahren unternahm. Mit ins Boot müsste Sánchez dann noch die 69 Abgeordneten der Podemos, neun der Republikanische Linken ERC aus Katalonien, zwei Parlamentariern der ursprünglich kommunistischen Unión Popular und sechs Stimmen der baskischen Nationalpartei PNV holen. Mit einer Parlamentsmehrheit von 176 Sitzen hätte sich dann ein links-alternativer „bunter“ Block gebildet, der für die herrschenden jetzt in Madrid, Brüssel und auch Berlin äußerst unangenehm werden könnte.

Zum jetzigen Zeitpunkt sind jegliche Prognosen, in welche Richtung Koalitionsgespräche der verschiedenen Seiten laufen könnten, mehr als vage. Würde jeder der Parteien bei ihrem vor der Wahl gesprochenen Wort bleiben, müsste König Felipe Neuwahlen ausrufen und Spaniens arg gebeutelte Bevölkerung müsste erneut an die Urnen gehen, um einen neuen Wählerauftrag an die politische Elite zu schicken. Viel interessanter als die Spekulationen um Regierungsmehrheiten sind die Fragen, warum Spanien nach der Wahl da steht, wo es steht und dabei spielt die ereignisreiche Geschichte des Landes eine gewichtige Rolle. Konflikte aller Art sind und waren in Spanien an der Tagesordnung und haben nie aufgehört zu existieren, auch nicht, als man in der sogenannten transición den Weg in die Demokratie geschafft hat.

Bürgerkrieg, die faschistische Diktatur der Franquisten mithilfe der noch immer einflussreichen Katholischen Kirche, die Separationsbestrebungen aus dem Baskenland und neuerdings besonders akut aus Katalonien, die politische Korruption, mangelnde Aufarbeitung der konfliktreichen Geschichte und die aktuellen Probleme (Wirtschaftskrise, soziale Not durch Arbeitslosigkeit und Rückbau des Sozialstaates). Die Liste ungelöster politischer Fragen ist lang und dank des statischen politischen Systems sind all diese Wunden noch offen, dies könnte sich zumindest in den öffentlichen Debatten nun ändern. Immerhin müssen sich die Altparteien seit Sonntag mit weiteren Gruppierungen auseinandersetzen.

Besonders die aus der sozialen Massenbewegung „15M“ entstandenen Podemos-Partei könnte eine für die spanische Demokratie ungemein wichtige Dynamik einbringen. Partei-Ikone Pablo Iglesias äußerte sich stets kritisch, wenn es um den Demokratisierungsgrad eines der wichtigsten EU-Mitgliedsländer ging. Nicht nur für ihn haben die spanische Machteliten aus Rechtskonservativen, offenen Faschisten, der Kirche, Großgrundbesitzer und Großkonzerne eine echte Demokratisierung abgewehrt. Das langjährige Zweiparteiensystem war der „demokratische Schein“, den das Establishment brauchte, um Spanien im kapitalistischen System zu positionieren.

Spaniens Wähler haben sich bei nüchterner Betrachtung vergleichsweise wenig gewehrt, dafür, dass die Arbeitslosigkeit bei immer noch ca. 25% liegt, bei den Jugendlichen sogar bei annähernd 60%. Eine gesellschaftliche Katastrophe für ein Land, das in den letzten Jahren, während des Tiefpunkts der Wirtschafts- und Finanzkrise, einen Abgang von jungen, gut ausgebildeten, aber perspektivlosen Menschen erlebt hat. Dass der Staat sich in drastischer Art und Weise von seinen sozialen Verpflichtungen verabschiedet hat, brachte viele Menschen zu Podemos. Schon bei den Regionalwahlen setzten sich Podemos-Kandidaten eindrucksvoll durch. Sie stellen nun u.a. die Bürgermeister in Madrid und Barcelona.

Warum es nicht mehr als die 20% waren, warum noch immer knapp 50% der abgegebenen Stimmen an die beiden „großen“ Parteien gehen, obwohl diese nachweislich für den Niedergang des Landes verantwortlich sind, wo die mehr als 40% Nichtwähler geblieben sind, dafür muss nach Antworten gesucht werden, und einige davon sind schon längst ausgesprochen worden.

Von der Illusion der Herrschaft des Volkes, kann auch in Spanien nicht mehr die Rede sein. Für viele Menschen ist die Machtelite hochkorrupt, Skandale dieser Art erschütterten vor allem die PP, betrifft aber auch die PSOE oder sogar die Ciudadanos. Konsequenzen mussten die Mächtigen aber wenig fürchten. PP-Vorsitzender Mariano Rajoy orientierte sich an seine europäische Parteifreundin Merkel und saß das Korruptionsproblem einfach aus. So konnte er den Fängen des Rechtsstaates entkommen, obwohl die Indizienlage mit seinem Namen auf Listen des verurteilten ehemaligen PP-Schatzmeisters Bárcenas erdrückend war.

Bürgerrechte werden noch immer rigoros eingeschränkt, ohne das die europäische Öffentlichkeit wirklich Notiz davon nimmt. Die „Ley Mordaza“, das „Knebelgesetz“ widerspricht jeglichen liberal-demokratischen Grundrechten, da es unautorisierte Demonstrationen und Kundgebungen einfach verbietet. Verstöße dagegen, wie auch das Posten von Links, die auf entsprechende Websites leiten, werden mit mehrjährigen Haftstrafen versehen. Regelmäßig werden Demonstrationen von Spaniens für ihre Überhärte berüchtigte Polizeieinheiten gewaltsam beendet, ob durch Tränengas, Schlagstöcke oder sogar Gummigeschosse. Das Demokratieverständnis der „bürgerlichen“ Eliten wird von der Polizei bereitwillig und fern jedes Rechtsstaates repräsentiert.

Großen Aufschrei hat das im Juni verabschiedete Abtreibungsgesetz ausgelöst. PP und die Katholische Kirche wollten das Gesetz von 2010, wonach Abtreibungen bis zur 14. Schwangerschaftswoche ohne Angabe von Gründen erlaubt ist, komplett kippen und nur noch in Fällen von einer möglichen Lebensgefahr der Mutter oder bei Vergewaltigung eine Abtreibung unter Umständen zulassen. Nach heftigen Protesten ruderte die PP zurück und veränderte das Gesetz dennoch. Minderjährige dürfen nur noch mit Zustimmung der Eltern und bei entsprechender Beratung von Ärzten eine Abtreibung vornehmen.

In jedem Fall tritt in Spanien eine schwerwiegende demokratische Erosion zu Tage. Die soziale Kluft hat eklatant zugenommen in den vergangenen Jahren, Ausgaben im Sozial-, Bildungs- und Gesundheitsbereich wurden dramatisch gekürzt und lösten somit eine Welle von Verarmung in der Bevölkerung aus. Reformen, wie sie von EU-Geldgebern, allen voran der deutschen Regierung gefordert waren, wurden auf Kosten der Bevölkerung ausgetragen und warf Spanien um Jahre bis Jahrzehnte zurück. Der Politikwissenschaftler und Publizist Raul Zelik sieht den Kern der Politik nicht in Austerität, sondern schlichtweg in Umverteilung. Sozial integrative Funktionen, die nunmal zu den Aufgaben eines Sozialstaates stehen, wurden zugunsten des Finanzkapitals und der Großkonzerne zurückgebaut.

Krankenversicherung und Arbeitslosenhilfe gibt es höchstens zwei Jahre lang. Die oben genannten Bereiche erlebten Kürzungen und Streichungen, die Spanien zuvor noch nie erlebt hat. Arbeiter, Staatsangestellte, Schüler, Studenten, Rentner, Pflegebedürftige und Kranke mussten für die großzügigen Zahlungen an die von Korruption zersetzten spanische Banken im wahrsten Sinne des Wortes zahlen. Gerade Schwerkranke haben den Rückbau des Gesundheitssystems schon jetzt mit ihrem Leben bezahlt. Ärztevereinigungen schätzten, dass zwischen 2010 und 2012 800 Menschen – bei Krebserkrankungen z.B. – keine Behandlung mehr erhielten und daraufhin verstarben.

Drastische Beispiele, die darlegen, wie sehr das neoliberale System krankt und die Perversion nimmt zu, wenn man Wirtschaft- und Finanzlobby, sowie den neoliberalen Regierungen in Europa, einschließlich Spanien, glaubt. Ein Wirtschaftswachstum von 2% sagt man voraus, das allerdings am „einfachen“ Volke vorbeigeht, Ausgabenpolitik ist nach Artikel 135 der Verfassung Sache der EU und die sagte bis zuletzt, nur mit Sparmaßnahmen könne man der Staatsverschuldung Herr werden. Die Realität ist, dass Spaniens Verschuldung ansteigt und das erst, seitdem der Staat marode Banken retten musste. Noch vor 2008 war die Staatsverschuldung deutlich unter der Deutschlands.

Auch mit der teils gewaltsamen Unterdrückung von Unabhängigkeitsbestrebungen aus dem Baskenland und Katalonien sorgte Madrid für eine Verschärfung der uralten Konflikte, man missachtete Grundprinzipien liberal-demokratischer Systeme und versucht(e) mit harter Hand jeglichen Dialog zu verhindern. Die Katalanische Frage ist weiterhin offen und wird immer drängender. Madrids Umgang mit der oft linken, antifaschistischen Peripherie war schon immer unversöhnlich.

Dass Spanien über keine wirklich nennenswerte rechtsextreme Partei verfügt, liegt am strengen Machtapparat der zentralistischen PP, die als direkter Rechtsnachfolger Francos „Falangista“ die rechte Spur bereits besetzt und dadurch kaum Raum für neue Parteien aus dem selben Spektrum lässt. Bis heute begeht man am 20. November ganz institutionell den Todestages des Caudillos, pflegt zusammen mit der Kirche die pompös-absurde Gedenkstätte „Valle de los Caídos“ nahe Madrid, das an die Väter des spanischen Faschismus erinnert, jeden Sonntag und in einer staatliche geförderten Stiftung.

So scheint es nur logisch, dass sich aus der Bewegung „15M“ von der Straße eine institutionalisierte Partei (Podemos) gebildet hat, die Spanien verändern möchte. Hinsichtlich der starren Politik Spaniens, ist das schon einmal ein Erfolg. Trotzdem hätte die „kritische Masse“ höher sein können, denn die Gräben in diesem Land sind übergroß und keine der neoliberal ausgerichteten Parteien würde es zuzutrauen sind, diese effektiv zu überwinden. Die Hoffnung, dass Iglesias und seine Parteikollegen, zusammen mit weiteren linksalternativen Kräften einen größeren Einfluss ausüben kann, ist durch die letzte Wahl sicherlich gestiegen.

Martín Dudenhöffer, Universität Aalborg, Dänemark

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