Das doppelte Dilemma von SYRIZA

Griechenland ist in einer katastrophalen Lage. Die von der Troika verordnete Austeritätspolitik der letzten Jahre hat ein bereits zuvor fragiles Land noch weiter beschädigt. Nicht nur herrscht soziale Zerrüttung vor, auch gibt der ökonomische und soziale Status Quo wenig Anlass zur Hoffnung, dass schon bald eine deutliche Besserung für die große Mehrheit der Menschen erzielt werden könnte. Ein Gastbeitrag von Alexander Recht

Egal, welche Vorschläge nun kommen, sie haben die aktuellen Gegebenheiten zur Kenntnis zu nehmen: wenig Wachstum, hohe Arbeitslosigkeit, viel Armut, unzureichende soziale Absicherung, hohe Verschuldung, Abhängigkeit von externen Quellen der Finanzierung.

Grundsätzlich gilt für ein Land: Ist der durchschnittliche Zinssatz auf Schuldtitel kleiner als das Wachstum des BIP, so ist im Haushalt sogar ein Primärdefizit möglich und nötig, also Ausgaben (ohne Zins und Tilgung), die höher sind als die Einnahmen.[1] Möglich ist es aus mathematischer Sicht, nötig ist es ökonomisch, weil Primärdefizite in der Regel Voraussetzung für höheres Wachstum sind. Man muss es also klar und laut sagen: Lässt man einem Land die Chance, Wachstum zu erzielen, so kann es seine Schuldenlasten langfristig bewältigen und zugleich eine sozial ausgewogene Haushaltspolitik betreiben.

Das Problem ist aber, dass die sogenannten Institutionen, die Nachfolger der Troika, Griechenland diese Chance nicht einräumen. Denn die Institutionen verlangen von Griechenland Primärüberschüsse, also einen Haushalt, in dem die Ausgaben kleiner sind als die Einnahmen und der dadurch Austerität verordnet und Wachstum bremst.

Genau hier dürfen also keine Fehlschlüsse gezogen werden. Zwar reduziert ein Primärüberschuss per se die Schuldenlast, aber eben nur per se. Die katastrophale Nebenwirkung dieser Austeritätspolitik besteht nämlich darin, dass das Wachstum gedrückt wird, und zwar so sehr, dass die Altschulden mit geringerer Wahrscheinlichkeit bewältigt werden können.[2] Man kann hier auch von einem Schuldenparadoxon sprechen.

Angesichts dessen herrscht ein doppeltes Dilemma vor.

 

Dilemma 1: die Ökonomie

Richtig wäre für Griechenland, dass der Staat Geld ausgibt und mit einem Primärdefizit kurzfristig Schulden macht. Notwendig wäre auch, dass Deutschland sehr rasch Lohnsteigerungen erzielt und damit den Südländern Entwicklungsperspektiven bietet. Weder das eine noch das andere liegt jedoch aktuell und kurzfristig im Bereich des Realistischen. Ein Primärdefizit zu machen wird Griechenland seitens der Institutionen nicht genehmigt; Lohnerhöhungen in Deutschland sind im erforderlichen Ausmaß (noch) nicht in Sicht.

Die Institutionen schlagen daher auch bei ihrem Vorschlag eine andere Richtung ein. Einige Beispiele: Der grundsätzliche Umsatzsteuersatz soll in Griechenland auf 23% erhöht werden, damit das Aufkommen um 1% des BIP steigt. Bei der Rentenversicherung sollen Einsparungen in Höhe von 1% des BIP durchgeführt werden – entweder durch Ausgabenkürzungen oder durch Beitragssteigerungen. Das Ganze soll dem Ziel dienen, ab 2018 einen Primärüberschuss von 3,5% des BIP zu erzielen.[3]

Welche Alternative bietet Syriza an? Angesichts der problematischen Ausgangslage sieht sich Syriza dazu gezwungen, einen Vorschlag zu unterbreiten, der natürlich für die griechische Bevölkerung besser ist als jener der Institutionen, aber ebenfalls mit der Vorgabe der Vermeidung von Primärdefiziten nicht deutlich bricht. So soll auch bei Syriza der Umsatzsteuersatz erhöht werden, um das Aufkommen zu erhöhen, es gibt jedoch Ausnahmen; so plant auch Syriza Beitragserhöhungen bei der Rentenversicherung, allerdings auch bei den Arbeitgebern. Die Unterschiede sind also kurzfristig gar nicht so hoch.[4]

Um nicht missverstanden zu werden: Beitragserhöhungen in der Rentenversicherung sind sinnvolle Lösungen, aber sie tragen nicht dazu bei, von heute an insgesamt großes Wachstum zu erzielen, weil sie der Vorgabe, Primärdefizite zu vermeiden, folgen.

Warum macht Syriza dann diese Vorschläge? Dies hat zwei Gründe. Zum einen sind Reformen, die mit dem griechischen Klientelismus brechen, die Ausgaben effektivieren und die Einnahmebasis stärken, mittelfristig sinnvoll, obwohl sie wie geschildert kurzfristig zu wenig durch ein expansives Konzept begleitet werden.

Zum anderen aber, und das ist der wichtigere Grund, droht die Alternative des Grexits. Der ist vermutlich noch weniger expansiv. Zwar würde eine abgewertete Drachme die Exportposition Griechenlands verbessern, aber sie würde auch die Importe drastisch verteuern, durch eine reduzierte Realeinkommensposition die Binnennachfrage schwächen und womöglich soziale Kluften erhöhen. Zudem würden bei einem Grexit erhebliche Turbulenzen für ganz Europa drohen.[5]

Das ökonomische Dilemma besteht also in Folgendem: Angesichts der problematischen Ausgangslage ist die Mehrheit von Syriza eher dazu bereit, genauer: durch die Verhältnisse dazu gezwungen, die eigentlich unerwünschte Vorgabe von Primärüberschüssen zu akzeptieren, als den Grexit einzugehen, da dieser noch problematischer ist als die Vorgabe von Primärüberschüssen.

Aus der Ferne betrachtet geht es Syriza vermutlich darum, mit seinem eigenen Vorschlag Zeit zu gewinnen und darauf zu hoffen, dass Schulden gestreckt und entlastende Umschuldungen vorgenommen werden, um so Zeit gewinnen und in dieser Zeit Maßnahmen durchführen zu können, mit denen dann doch Expansion erzeugt wird.

Dilemma 2: die Politik

Das Vorhaben, Zeit zu gewinnen, riechen die Institutionen natürlich. Ihnen schwant, dass es tatsächlich zu einer Abkehr von Austeritätspolitik in Europa kommen könnte. Und genau aus diesem Grunde haben sie die Vorschläge Syrizas trotz nur geringer Abweichungen abgelehnt – um ein Exempel zu statuieren.

Syriza hingegen möchte über seinen Vorschlag hinaus nachverhandeln, um ohne Grexit Zeit zu gewinnen, in der zusätzliche unkonditionierte Mittel eingeworben und expansive Maßnahmen eingeleitet werden können.

Genau deswegen hat Syriza das Referendum und sein Plädoyer für ein Nein zu den Vorschlägen der Institutionen angekündigt: nicht als Votum für einen Grexit, sondern als Druckmittel, um Nachverhandlungen zu eigenen Gunsten zu ermöglichen. Überdies geht es Syriza auch darum, der Bevölkerung demokratische Partizipation in dieser Frage einzuräumen. Aus dem Referendum entsteht aber ein weiteres Dilemma.

Syriza plädiert bekanntlich im Referendum für ein Nein zu den Vorschlägen der Institutionen, ohne jedoch den Grexit zu wollen. Es ist aber gut möglich, dass hieraus eine Dynamik für einen Grexit entsteht. Denn Teile der Institutionen und der hinter ihnen stehenden Politik sagen unverblümt, dass ein Nein im Referendum zu den Vorschlägen der Institutionen einem Nein zum Euro gleichkomme.[6] Und auch Teile des linken Flügels bei Syriza sehen bei einem Nein im Referendum die Gelegenheit gekommen, die Rückkehr zur Drachme zu erstreiten, die sie schon länger befürworten.

Hinzu kommt umgekehrt, dass womöglich griechische Wähler, die so wie Syrizas Mehrheit im Euro bleiben wollen, im Referendum mit Ja stimmen – nicht weil sie für Austerität sind, sondern weil sie den Grexit als schlimmer ansehen als kurzfristig verordnete Primärüberschüsse und Austeritätsvorgaben. Hohe Prozentwerte für ein Ja würden aber die Position Syrizas erheblich schwächen.

Das politische Dilemma besteht also in Folgendem: Die Mehrheit von Syriza spielt die Karte des Referendums, um innerhalb des Euro Verbesserungen für die griechische Seite zu erzielen, obwohl damit entweder bei einem starken Nein-Ergebnis Befürworter des Grexits aus unterschiedlichen Richtungen Auftrieb erhalten könnten oder aber bei einem schwachen Nein- oder gar einem Ja-Ergebnis Syrizas Position geschwächt würde.

Fazit

Ich finde die Lage schwierig zu deuten und werde hier keine altklugen Empfehlungen für Syriza abgeben. Ich finde, man sollte dem Grundsatze nach an der Seite Griechenlands und seiner Bevölkerung stehen und sich gegen die Austeritätsvorgaben und die undemokratische Oktroypolitik der Institutionen wenden.

 

[1] Vgl. Recht, Alexander: Kleine Einführung in die Theorie der Staatsschulden, unveröffentlichtes Manuskript, Köln 2011, https://dl.dropboxusercontent.com/u/85535205/Staatsverschuldung.pdf, S. 2.

[2] Die Vorgabe von Primärüberschüssen ist übrigens der Kern des Problems, nicht aber, dass aufgenommene Schulden auch für Zinszahlungen und Tilgungen zuvor bereits aufgenommener Darlehen dienen. Einnahmen eines Staates lassen sich nicht eindeutig Ausgaben zuordnen. Insofern ist es falsch, zu denken, dass künftige Darlehen nur dazu dienen würden, alte Darlehen abzutragen. Das Problem ist vielmehr, dass bei Primärüberschüssen zu wenige Ausgaben erfolgen, um das Wachstum zu erzielen, das erforderlich wäre, um alte Darlehen abzutragen. Eine Übersicht zu den Altschulden Griechenlands findet sich hier: http://www.tagesschau.de/wirtschaft/rettungspakete-101.html.

[3] Vgl. EC/ECB/IMF staff: List which takes account of proposals of the Greek authorities received on 8, 14, 22 and 25 June, http://bit.ly/1BYR9oH, passim.

[4] Vgl. hierzu Giegold, Sven: Verhandlungen zwischen Griechenland und der Troika: Die zentralen Differenzen, http://www.sven-giegold.de/2015/verhandlungen-zwischen-griechenland-und-den-geldgebern-die-zentralen-differenzen/.

[5] Vgl. Recht, Alexander: Engagiert euch für Europa!, https://www.facebook.com/notes/alexander-recht/engagiert-euch-f%C3%BCr-europa/890783400952951.

[6] Besonders unglücklich agiert hier leider der SPD-Vorsitzende Gabriel, der die Entscheidung beim Referendum zur Entscheidung über den Verbleib Griechenlands im Euro erhebt. Vgl. Bannas, Günter / Sattar, Majid: Berliner Doppelbotschaft, in: FAZ vom 29.06.2015, http://www.faz.net/aktuell/politik/europaeische-union/geschlossenheit-cdu-und-spd-zur-griechenlandkrise-13675338.html.

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