Katja Hermann

Besatzung und strukturelle Gewalt – Über die Hintergründe der aktuellen Eskalation in Palästina und Israel – Im Gespräch mit Katja Hermann

In den letzten Wochen eskaliert die Situation im Nahen Osten zunehmend, dabei ist das Bild der deutschen Medien klar, die Palästinenser sind Terroristen, während Israel sich nur verteidigt, Besatzung und Unterdrückung werden ausgeklammert. Wir haben mit Katja Hermann, Leiterin der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Palästina, über die Situation vor Ort, die Auswirkungen der Besatzung und das Bild der Medien gesprochen.
Die Freiheitsliebe: Katja, Du bist als Leiterin des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung schon seit einigen Jahren im Nahen Osten, wie nimmst Du die aktuelle Situation wahr?

Katja Hermann: Die aktuelle Situation in den Palästinensischen Gebieten ist das Ergebnis jahrzehntelanger Besatzungspolitik und gescheiterter Verhandlungen, vor allem aber ist sie das Ergebnis fehlender Visionen und Strategien für eine gerechte politische Lösung des israelisch-palästinensischen Konfliktes. Palästinenser und internationale Beobachter, die vor Ort sind, haben schon lange vor einer Eskalation gewarnt, auch wenn niemand sagen konnte, wie diese genau aussehen würde. Es sind die palästinensischen Jugendlichen, die die Frustration und Perspektivlosigkeit einer ganzen Gesellschaft nun auf die Straße tragen.

Die Freiheitsliebe: Was war der Beginn der aktuellen Eskalation?

Katja Hermann: Die Lage hat sich in den letzten Monaten immer weiter zugespitzt. Vor einem Jahr, im Sommer 2014, waren wir schon einmal in einer ähnlichen Situation: Entführungen und Tötungen von Israelis und Palästinensern, Verhaftungswellen, zunehmende Gewalt von Siedlern, Auseinandersetzungen um den Tempelberg, dann der Gaza-Krieg mit seinen verheerenden Folgen für die Zivilbevölkerung. In diesem Sommer eskalierte vor allem der Konflikt um Zugangs- und Gebetsregelungen auf dem Tempelberg weiter. Radikale Siedlergruppen versuchen mit Gewalt, ihren Einfluss auf dem Tempelberg durchzusetzen. Die Al-Aqsa-Moschee und der Felsendom gehören zu den wichtigsten Orten für Muslime weltweit, für Palästinenser haben sie neben der religiösen Bedeutung auch nationalen Symbolcharakter. Jerusalem hat deshalb ein hohes Mobilisierungspotential, das weit über die religiös geprägten Bevölkerungsgruppen hinausgeht. Auch wenn das religiöse Moment derzeit droht, alles andere zu überzeichnen, ist der israelisch-palästinensische Konflikt im Kern kein Religionskonflikt. Der tödliche Angriff auf Siedler Anfang Oktober war es dann, der die gegenwärtige Gewaltspirale in Gang setzte und bislang 49 Palästinensern und acht Israelis das Leben kostete. Viele Hunderte Menschen, vor allem Palästinenser, sind zudem verletzt oder verhaftet worden, weitere Verhaftungswellen sind angekündigt.

Die Freiheitsliebe: In Deutschland wird von palästinensischen Terroristen und israelischer Verteidigung gesprochen, trifft dieses Bild so zu?

Katja Hermann: Mit dieser Darstellung macht man es sich zu leicht. Man nutzt einfache Bilder und Stereotypen, um sich nicht die Mühe machen zu müssen, zu verstehen, was hier das Problem ist. Palästinenser in Ost-Jerusalem und im Westjordanland sind permanent der strukturellen Gewalt des israelischen Besatzungssystems ausgeliefert, das beinhaltet zum Beispiel die Enteignung von Boden, die Zerstörung von Eigentum, Kollektivbestrafungen, massive Einschränkungen der Bewegungsfreiheit und Inhaftierungen ohne Anklage. Palästinenser im Gazastreifen leben seit Jahren unter einer Blockade, die nicht nur zu äußerst schwierigen Lebensbedingungen geführt hat, sondern auch jede Entwicklungsperspektive ad absurdum führt. Die palästinensische Minderheit in Israel, eigentlich gleichberechtigte Staatsbürger, sind ihrerseits Opfer struktureller Diskriminierung, die sich in mehreren Dutzend Gesetzen manifestiert. Wenn man die Gewaltanwendung der Palästinenser ablehnt, muss man sich auch mit Elementen dieser strukturellen Gewalt auseinandersetzen. Das Bild des messerstechenden Arabers zu bemühen, ist Stimmungsmache und hält einer kritischen Auseinandersetzung nicht stand.

Die Freiheitsliebe: Ist dieser Konflikt rassistisch motiviert oder handelt es sich um eine Folge des Besatzungszustands?

Katja Hermann: Die Besatzung und auch die strukturelle Diskriminierung der palästinensischen Minderheit in Israel werden getragen von einem politischen System, das auf Rassismus basiert. Die Kinder lernen schon in der Schule, dass Palästinenser keine gleichberechtigten Menschen sind, das setzt sich dann in der Armee fort, wo sie zu einem Sicherheitsproblem und legitimen Ziel avancieren. In diesem Kontext von Rassismus werden Gewaltanwendungen gegen Palästinenser geduldet. Die radikale Siedlerbewegung setzt diesen Rassismus auf brutalste und sichtbarste Weise um, er findet sich aber auch in der Mitte der Gesellschaft. Ich denke, dass das Besatzungssystem ohne Rassismus nicht bestehen könnte. Wenn man nur für einen Moment den „Anderen“ als gleichberechtigten Menschen mit legitimen Bedürfnissen und Interessen wahrnehmen würde, würde das Besatzungssystem wackeln. Es wäre dann nicht mehr selbsterklärend, dass zum Beispiel Menschen hinter Mauern und Checkpoints weggesperrt und Häuser und Olivenhaine zerstört werden.

Die Freiheitsliebe: Wie wirkt sich die Besatzung konkret auf die Jugend aus?

Katja Hermann: Die palästinensische Gesellschaft ist eine sehr junge Gesellschaft, 30% der Menschen sind zwischen 15 und 29 Jahre alt. Sie kennen nichts anderes als die Besatzung und endlose, schließlich gescheiterte Verhandlungen. Ihnen ist viel versprochen und nichts gehalten worden, es gibt immer noch keinen eigenen Staat, keine Freiheit, keine Selbstbestimmung. Aber auch in ihrem Alltag sind sie massiv eingeschränkt, sie können sich nicht frei in den Palästinensischen Gebieten bewegen, geschweige denn nach Israel oder außer Landes reisen. Die allermeisten waren noch nie im Meer schwimmen, obwohl sie das Mittelmeer an klaren Tagen von Ramallah aus sehen können. Ihre Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten sind beschränkt, die Jugendarbeitslosigkeit in Palästina ist mit rund 42% unter den 20-24-Jährigen sehr hoch. Weder ihre Eltern noch politische Parteien noch ihre politische Führung können ihnen eine Perspektive bieten. Sie erleben vielmehr, dass sich die politische Elite im bestehenden System eingerichtet hat und dass die ältere Generation, die zwei Aufstände miterlebt hat und den Preis des aktiven Widerstandes kennt, derzeit nicht als Partner zur Verfügung steht. Vor diesem Hintergrund haben die palästinensischen Jugendlichen die Dinge nun in die eigenen Hände genommen, sehr darum bemüht, sich nicht vom politischen Establishment kooptieren zu lassen.

Die Freiheitsliebe: Was macht die Rosa-Luxemburg-Stiftung, um die Situation zu verbessern, wer sind Eure Partner vor Ort?

Katja Hermann: Unser Büro arbeitet mit verschiedenen progressiven Partnerorganisationen der palästinensischen Zivilgesellschaft. Diese gestalten alternative Räume und Diskurse in den Themenfeldern soziale Fragmentierung, emanzipatorische Bildung, ökonomische Alternativen und pluralistische Debatte. In allen Bereichen geht es darum, sich kritisch mit gesellschaftlichen und politischen restriktiven und neo-liberalen Strukturen auseinanderzusetzen und solidarische Alternativen zu entwickeln. Im Themenfeld emanzipatorische Bildung kooperieren wir zum Beispiel mit Forum-Theatern und Debatten-Vereinen, die mit den Teilnehmenden kritische Reflektion und Partizipation einüben, eine Grundvoraussetzung für gesellschaftspolitischen Wandel. Mit Blick auf den politischen Dialog versuchen wir, über politische Analysen sowie mit Veranstaltungen in Deutschland Einfluss auf die politische Debatte über Palästina bzw. über den israelisch-palästinensischen Konflikt zu nehmen.

Die Freiheitsliebe: Was kann die Linke in Deutschland tun, um im Nahostkonflikt zu helfen, wenn wir überhaupt etwas tun können?

Katja Hermann: Teile der deutschen Linken lehnen es ab, sich kritisch mit der Situation der Palästinenser unter Besatzung auseinanderzusetzen oder sich überhaupt auf palästinensische Narrationen einzulassen, die Gründe dafür sind bekannt. Die Augen vor dem Unrecht an den Palästinensern zu verschließen, heißt aber, sich gemein zu machen mit dem menschenverachtenden System von Besatzung und Unterdrückung. Das ist meines Erachtens eine falsch verstandene Solidarität mit Israel, die keinem hilft, auch nicht Israel. Stattdessen sollte die Linke in Deutschland die Augen sehr weit aufmachen, in Kontakt treten mit Palästinensern und Israelis – und zuhören. Es gibt viele kluge, kritische und mutige Stimmen auf beiden Seiten des Konflikts, die gehört werden sollten, die man treffen und unterstützen und mit denen man sich auch auseinandersetzen kann. Es ist nicht so, dass Dinge verschwinden, nur weil man die eigenen Augen schließt – in diesem Glauben darf man nur kleine Kinder lassen.

Die Freiheitsliebe: Danke dir für das Gespräch.

Dr. Katja Hermann, Leiterin des Regionalbüros Palästina der Rosa-Luxemburg-Stiftung mit Sitz in Ramallah

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