Wo bleibt die Solidarität?

Die EU dient nur den Interessen einer Minderheit. Warum die Mehrheit sich gegen die Minderheit nicht durchsetzen kann, zeigt sich an den Gewerkschaften in Europa.

Adriano sorgt sich um seinen Betrieb im sonnigen süditalienischen Pomigliano d‘Arco. Bei Fiat werden immer mehr Leute entlassen und selbst er als aktiver Gewerkschafter kann daran nicht viel ändern. Für ihn sind die in der Vergangenheit erkämpften Errungenschaften fast nur noch Geschichten aus vergangenen Tagen: „Mit der Krise kam auch der Abbau von Rechten, die unsere Väter erkämpft hatten. Regelmäßige Pausenzeiten oder eine Klimaanlage sind Vergangenheit.“ Adriano beschwert sich über den Zustand der ArbeitnehmerInnenrechte in Italien und Europa. Seit den Angriffen der Troika auf die unterschiedlichsten Rechte, sind miserable Haustarifverträge die Regel. „Selbst Streiken ist nun verboten!“ schimpft er.

In anderen Ländern Südeuropas sieht es ähnlich aus. Die Lage der Gewerkschaften und damit der ArbeitnehmerInnenrechte ist desaströs. Selbst Kampfformen wie Generalstreiks haben diese Situation nicht verbessert. Die vier Generalstreiks in Portugal seit 2012 brachten keine Verbesserungen. Steigende Arbeitslosigkeit, prekäre Beschäftigung und die Zerstörung der Flächentarifverträge haben die Schlagkraft der Gewerkschaften gesenkt. Die PolitikerInnen können deshalb die Wut einfach aussitzen. Die nationalen Gewerkschaften sind heute kaum noch in der Lage, sich gegen die Troika-Politik der Zerstörung von ArbeitnehmerInnenrechten zu wehren.

Theorie und Praxis klaffen auseinander

Alle gebeutelten Gewerkschaften der Krisenländer sind auch Teil des 1973 gegründeten Europäischen Gewerkschaftsbundes (EGB), dem Dachverband europäischer Gewerkschaften. Dieser soll eigentlich nationale Standortlogiken überwinden und einen gemeinsamen solidarischen Kampf der ArbeitnehmerInnen Europas ermöglichen. Die Ziele des EGB wie ein soziales Europa oder die europäische Interessenvertretung von ArbeitnehmerInnen sind heroisch, doch die Praxis hinkt dahinter weit zurück und dient häufig nationalen Interessen. Ein gutes Beispiel hierfür ist ein Mitglied des EGB, der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB). Dieser ist weit davon entfernt, eine solidarische europäische Politik zu betreiben.

Dies zeigt sich beispielsweise an der Forderung eines europaweiten Mindestlohnes, wie er von der Generalsekretärin des EGBs Bernadette Ségol erhoben wird. Diese beruft sich auf eine Empfehlung des Europarates, wonach die Lohnuntergrenze nicht 60 Prozent des Medianeinkommens unterschreiten sollte. Der DGB unterstützt hingegen die Forderungen der SPD von einem Mindestlohn von 8,50 Euro Dieser reicht weder für die Alterssicherung, noch ist er allumfassend und würde nur etwa 51 Prozent des Medianeinkommens betragen. Zum Vergleich: in Portugal und Frankreich ist der Mindestlohn mit 58 und 62 Prozent des Medians weitaus höher. Damit würde die deutsche Niedriglohnpolitik der letzten Jahre weitergeführt und Arbeitsplätze von europäischen KollegInnen weiter kaputt konkurriert – alles mit Zustimmung des DGB.

Vorteilhafte Standortpolitik

Um zu verstehen, warum der DGB dies tut, lohnt ein Blick auf seine Einzelgewerkschaften. Entscheidend ist dabei die IG Metall – sie ist die größte und damit auch einflussreichste Einzelgewerkschaft des DGB. Sie profitiert zumindest mittelfristig von der europäischen Austeritätspolitik. Weil die Löhne in Deutschland seit Jahren nicht gestiegen sind, sind auch die Kosten für die Produktion von Exportwaren relativ niedrig. Aus Deutschland kann also weiterhin viel exportiert werden. Die IG Metall unterstützt diese Standortpolitik. Und so hat der ehemalige Vorsitzende der IG Metall Bertold Huber während des Zenits der Krise in Spanien die dortigen KollegInnen aufgefordert, für Lohnverzicht bereit zu sein: „Damit haben die spanischen Gewerkschaften ihren Vorteil verspielt, dass sie nämlich billiger als die deutsche Industrie waren.“ Dass der jahrelange Reallohnverzicht deutscher ArbeitnehmerInnen auch einen gewaltigen Anteil an der momentanen Situation Europas hat, ist Huber egal. Schließlich profitierte Huber vom Handschlag mit Merkel und staatlich subventionierter Standortpolitik wie Kurzarbeit und Abwrackprämie.

Der DGB und seine Einzelgewerkschaften merken leider nicht, was sie mit den Gewerkschaften in anderen Ländern eint. Während Flächentarifverträge in den Krisenländern über politischen und ökonomischen Druck abgebaut werden, entziehen sich in Deutschland die Arbeitgeber einseitig den Tarifverträgen. Die Sozialpartnerschaft wurde von Seiten der Arbeitgeber schon lange aufgekündigt, stattdessen betreiben diese nun eine aggressive Lohnsenkungspolitik. Da die Gewerkschaften aber weiterhin an dem Sozialpartnerschaftsmodell festhalten, wird die Verhandlungsmacht des DGB geschmälert.

Für Adriano ist der Weg aussichtslos. Er schimpft erneut, aber diesmal über seine deutschen KollegInnen. In seine Wut mischt sich ein fast schon flehender Unterton: „Wir werden hier allein gelassen und Merkel kriegt noch den Handkuss von euch. Wo bleibt eure Solidarität?“ Er bleibt alleine am Werk und macht mit seiner Arbeit weiter.

Der Artikel von Paul Naujoks erschien zuerst auf critica-online.de

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Eine Antwort

  1. Zustimmung. Wir erleben gerade eine Art europäisches Weimar. Gerade die, die berufsmässig von Solidarität reden, beteiligen sich massiv an der Zerstörung selbiger. Wenn selbst die europäische Gewerkschatsbewegung nicht grundlegend an einem Strang zieht, ist es schon schlimm. Die EU als Friedensprojekt und Verhandlungsraum für europäischen Interessenausgleich droht unterzugehen.

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