Keeanga-Yamahtta Taylor

Die USA brauchen einen Regimewechsel – Im Gespräch mit Keeanga-Yamahtta Taylor

In den letzten Monaten diskutierte die Welt über die Proteste gegen die Polizeigewalt in den USA. Wir haben mit Keeanga-Yamahtta Taylor, Assistant Professor im Center of African American Studies der Princeton University & Mitglied der International Socialist Organization (ISO), ein Interview über die Proteste und deren Folgen geführt.

Die Freiheitsliebe: Zunächst vielen Dank dafür, dass du dir die Zeit für dieses Interview nimmst. Meine erste Frage an dich wäre: Wie verhält sich die #BlackLivesMatter-Bewegung zur sozialistischen Bewegung in den USA, gibt es viele Verbindungen oder bist du sozusagen der einzige Berührungspunkt?

Keeanga-Yamahtta Taylor: Naja. Ich glaube, die beste Antwort darauf wäre… die Black Lives Matter-Entwicklung ist ja gerade erst dabei, sich zu entfalten. Es sind acht oder neun Monate vergangen seit Mike Brown in Ferguson, Missouri getötet wurde und sechs Monate, seit sich die ersten Proteste Ende November, Dezember und Januar das Motto „Black Lives Matter“ gegeben haben, nachdem es gegen Darren Wilson und den Polizisten in Staten Island zu keiner Anklageerhebung kam [Daniel Pantaleo, Täter im Fall Eric Garner, Anm. d. Red.]. Die Bewegung ist also noch sehr zerstreut. Es gibt zwar diverse Aktionen in verschiedenen amerikanischen Städten und es existiert auch eine lose Verbindung zwischen ihnen, und auch Aktivität herrscht nach wie vor. Aber eine sozialistische Bewegung… gibt es in den Vereinigten Staaten eigentlich nicht. Es gibt Gruppen des linken Spektrums, von denen die ISO – die International Socialist Organization – wohl die größte ist, die versuchen, sich in Sachen Black Lives Matter mit den Protesten zu solidarisieren, sich mit den Menschen zu treffen und die verschiedenen Kämpfe zu bestärken, die vielerorts geführt werden. Ziel ist, sich zusammenzuschließen, auch in Form öffentlicher Versammlungen, auf denen nicht nur ein erhöhtes Bewusstsein für Einzelfälle oder bestimmte Aktivisten erzeugt werden soll, sondern auch aktiv konkrete Möglichkeiten der Zusammenarbeit gefunden werden sollen. Die Menschen haben erkannt, dass es sich hier um eine entscheidende Entwicklung im organisierten Kampf gegen Rassismus handelt, und auch in Sachen linker schwarzer Politik – aber gleichzeitig ist es eben noch sehr früh und alles ist noch in der Entwicklung begriffen.

Die Freiheitsliebe: Mir sind im Rahmen der Beobachtung vereinzelt Beschwerden langjähriger Aktivisten gegen Polizeigewalt aufgefallen, die dahingehend lauten, dass im Moment diverse Organisationen quasi aus dem Nichts auftauchen und sich auf die Black Lives Matter-Bewegung aufschwingen, und dass Aktivisten, von denen vorher noch niemand gehört hat, laut in Erscheinung treten und die Bewegung für ihre eigenen Anliegen benutzen. Meine Frage an dich lautet nun – ist es dir jemals passiert, dass deine sozialistische Politik so wahrgenommen wird, als würdest du Black Lives Matter dazu benutzen wollen, den Sozialismus quasi durch die Hintertür ins Gespräch zu bringen?

Keeanga-Yamahtta Taylor: Also ich finde es etwas merkwürdig, sich darüber zu beschweren, dass sich neue Gruppen organisieren und vermehrt in Erscheinung treten – für mich ist das eine positive Entwicklung. Ich würde lediglich sagen, es wäre besser, wenn mehr Gruppen tatsächlich miteinander Kontakt pflegen würden, denn das passiert aktuell nicht. Im Moment gibt es eine Menge neuer Aktivisten und neuer Leute, die gerade erst ausprobieren, wie man sich organisiert und alles zum ersten Mal machen, und alle haben verschiedene Vorstellungen dazu, wie so etwas aussehen soll. Viele konzentrieren sich auf Protestmärsche, aber es gibt eine große Bandbreite politischer Aktivitäten an denen sich Menschen beteiligen, was gut ist. Der fehlende Kontakt ist allerdings wirklich eine Schwachstelle, er kann dazu führen dass manche Aktionen nicht so effektiv oder erfolgreich ausfallen wie eigentlich möglich. Und der Erfahrungsaustausch wird dadurch gebremst, Aktivisten können weniger gut aus den Erfahrungen anderer lernen und sowohl Schwierigkeiten als auch erfolgreiche Strategien übertragen. Aber ich wüsste nicht, dass es in den USA große Beschwerden darüber gäbe, dass Sozialisten die Bewegung ausnutzen.

Die Freiheitsliebe: Dir ist der Vorwurf also noch nicht begegnet?

Keeanga-Yamahtta Taylor: Nein. Ich muss allerdings dazu sagen – ich bin nicht in einem Bündnis, ich bin Professorin, also Akademikerin. Mein Alltag spielt sich nicht in der Bündnisarbeit ab. Aber natürlich kenne ich Menschen, bei denen das der Fall ist. Eine viel größere Debatte in den Staaten ist die Rolle von Weißen in der Bewegung, beziehungsweise ob es eine Rolle für sie geben sollte oder nicht. Um Sozialisten geht es weniger. Auch wenn ich sicher bin, dass das Thema aufkommen wird, jetzt wo es mehr Versammlungen gibt, mehr Interaktion zwischen den beiden Gruppen. Aber das große Thema sind tatsächlich Weiße in der Bewegung – abgesehen natürlich von der Frage „Wie schaffen wir es, dass die Polizei mit dem Töten aufhört?“. Die zentrale Frage ist „Sollen Weiße einbezogen werden, gibt es eine Rolle für Weiße?“… so in etwa.

Die Freiheitsliebe: Ich erinnere mich, du hast in deinem Vortrag [„Rebellion in Baltimore – wie weiter im Kampf gegen Rassismus?“ am 16.05.2015 auf Marx is’ Muss in Berlin, Anm. d. Red.] darüber gesprochen, dass aktuell eine Konferenz geplant wird, an der nur Schwarze teilnehmen sollen, und die vermutlich den größten Schritt in der Fragestellung darstellen wird, ob Weiße in die Bewegung integriert werden sollen oder nicht.

Keeanga-Yamahtta Taylor: Ganz genau.

Die Freiheitsliebe: Ich verstehe. Als nächstes würde ich gerne darüber sprechen, dass aktuell viele Stimmen hinsichtlich der zahlreichen Black Lives Matter-Bewegungen die Hoffnung haben, dass sie ein Auslöser für soziale Veränderung sein könnten und – was du selbst auch schon erwähnt hast – dass sie ein soziales Bewegungsmoment erzeugen könnten. Gleichzeitig geben jedoch viele zu bedenken, es hätte ja die 99%-Bewegung und Occupy Wall Street gegeben, mittlerweile wäre davon jedoch nichts mehr zu spüren, da diese Bewegungen quasi vom Medienradar verschwunden sind, nachdem sie ihren „großen Durchbruch“ hatten. Wie siehst du das – glaubst du, diesmal wird es anders, ist für dich das Potenzial einer langfristigen Bewegung aktuell größer als damals?

Keeanga-Yamahtta Taylor: Nun – für mich persönlich fühlt es sich nicht so an, als wäre Occupy nie passiert. Das Problem damit… nun, nicht wirklich das Problem. Aber das Konzept der 99% und 1% hat eine derartige Dominanz erreicht und sich vor allem in der amerikanischen Gesellschaft so stark etabliert, dass es sich mittlerweile mehr oder weniger von selbst versteht. Es ist keine besonders radikale Aussage oder Beobachtung mehr, davon zu sprechen. Für mich gibt es eine Verbindung zwischen Occupy und Black Lives Matter, und zwar in der Hinsicht, dass die lebhaften Proteste im Fall Trayvon Martin, aus denen mehr oder weniger direkt die Black Lives Matter-Bewegung hervorgegangen ist, eine Art neue Heimat für Occupy wurden. Die Bewegung um Trayvon Martin hat Occupy-Aktivisten aufgefangen, die von der staatlichen Repression versprengt worden waren – im März gab es die ersten Protestmärsche für Trayvon Martin, das war etwa zwei oder drei Monate nach der Auflösung von Occupy durch die Polizei. Es gab also eine direkte Verbindung zwischen den beiden Bewegungen, in gewisser Weise stecken die Wurzeln von Black Lives Matter auch in Occupy, und daraus ergibt es sich, dass die Menschen nicht ausschließlich gegen Polizeigewalt protestieren, sondern auch – verschieden stark ausgeprägt natürlich – die Verbindung zwischen polizeilicher Repression und wirtschaftlicher Ungerechtigkeit hergestellt haben.

Die Freiheitsliebe: Was wünschst du dir von Menschen in Europa beziehungsweise Deutschland, die die Bewegung unterstützen möchten – wie können wir euch helfen, was können wir hier für euch tun?

Keeanga-Yamahtta Taylor: Ich würde sagen – haltet euch auf dem Laufenden über die Fälle, die in den USA auftreten und demonstriert vor der amerikanischen Botschaft. Setzt die deutsche Regierung unter Druck, was ihre Beziehung mit den Vereinigten Staaten angeht. Sie müsste ihre Stimme zu den entsetzlichen polizeilichen Repressionen und der Polizeigewalt gegen schwarze Amerikaner in den Vereinigten Staaten ebenso erheben, es wie die Vereinigten Staaten gegen andere Länder tun, in denen sogenannte Menschenrechtsverletzungen stattfinden. Das Ausland muss sich darauf konzentrieren, dass hier Menschenrechtsverletzungen stattfinden.

Die Freiheitsliebe: … und einen Regimewechsel fordern?

Keeanga-Yamahtta Taylor: Ja! Einen Regimewechsel. Man muss die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen für die Tötungen und Gewalttaten, die von Polizisten verübt werden.

Die Freiheitsliebe: Alles klar. Vielen Dank für das Gespräch!

Keeanga-Yamahtta Taylor: Gerne.

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